Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
sind nicht dieselben geblieben. Ich sagte dir schon, dass ich die meiste Zeit mit Träumen verbringe. Was soll ich auch andres tun? Ich habe dazu zwei Arten. Ich will sie dir nennen: vielleicht, dass sie dir nützlich sind.
Die erste ist sehr einfach; sie besteht darin, dass ich mich in einen niedrigen Lehnstuhl, der meinen alten Knochen weich genug ist, vor mein Kaminfeuer setze und meine Blicke auf Das zurück schweifen lasse, was dahinter liegt.
Oh wie kurz ist doch ein Menschenleben! Besonders, wenn es ganz an einem Orte verfließt.
»Im selben Haus geboren werden, leben
Und sterben…«
Welche Fülle von Erinnerungen! Sie drängen sich förmlich. Und wenn man alt wird, deucht es einem kaum zehn Tage her, dass man jung war. Ja, es ist alles verflossen, als wär’ es nur Ein Tag gewesen! Morgen, Mittag und Abend – und die Nacht fällt schnell, die Nacht ohne Morgenrot!
Wie ich so Stunde auf Stunde ins Feuer starre, wird mir die Vergangenheit wieder lebendig, als wäre es gestern gewesen. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin; der Traum reißt mich fort; mein ganzes Dasein lebe ich noch einmal durch.
Und oft glaube ich wieder, ich wäre noch ein Mädchen: so stark sind die Eindrücke der Vergangenheit, die Gefühle der Jugend, ihre hohen Stunden und selbst ihr Herzklopfen, all diese achtzehnjährige Lebensfreude; und das Vergangene steht greifbar, wie neue Wirklichkeit, vor meinen Augen.
Namentlich meine Jugendspaziergänge suchen mich wieder heim! Hier auf meinem Lehnstuhl, als ich vor meinem Feuer saß, dachte ich neulich wieder an einen Sonnenuntergang auf dem Mont Saint-Michel und gleich darauf an eine Hetzjagd im Walde von Uville; und der Duft des feuchten Sandes und des thaufrischen Laubes, die Glut der Sonne, die ins Wasser tauchte, und die feuchte Wärme ihrer ersten Strahlen, als ich durchs Holz galoppierte – das alles umschwebte mich plötzlich wieder. Und alles, was ich damals gedacht habe, meine Begeisterung vor den endlosen Weiten des Meeres, mein frohes Selbstgefühl, als die Zweige im Reiten mich streiften, meine kleinsten Gedanken, all die kleinen Ergebnisse meiner Beobachtungen, meiner Wünsche und meiner Gefühle, alles, alles ist wieder da, als wären die fünfzig Jahre nicht verflossen, die mein Blut gedämpft und mein Hoffen gewandelt haben. Meine andere Art aber, die Vergangenheit zu beschwören, ist bei Weitem die bessere.
Du weißt oder du weißt nicht, meine liebe Colette, dass im Hause nichts weggeworfen wird. Oben unter dem Dache haben wir eine große Trödelkammer, die »das Antiquitätenkabinet« heißt. Alles, was nicht mehr gebraucht wird, wandert dort hinein. Ich gehe oft herauf und sehe mich um. Da erblicke ich dann einen Haufen von Nichtigkeiten wieder, an die ich nie mehr dachte, und die mir eine Menge Dinge ins Gedächtnis zurückrufen. Zwar sind es nicht die trauten Möbel, die man von Kindheit auf kennt, und an denen die Erinnerungen von Ereignissen, von Freuden und Leiden, von Tagen unserer Geschichte haften. Keine Gegenstände, die mit unserem Leben verknüpft sind, und darum eine Art von Persönlichkeit und Charakter angenommen haben. Keine Gefährten unsrer holden und trüben Stunden, – die einzigen, ach! die wir sicher sind, nicht zu verlieren, die einzigen, die nicht sterben werden wie die anderen, deren Züge, deren liebe Augen, deren Mund und Stimme auf ewig dahin sind! – Aber ich finde in dem alten Trödel eine Menge von alten, nichtssagenden Dingen wieder, die vierzig Jahre um uns herum gewesen sind, ohne dass sie einem je aufgefallen wären, und die nun, wo man sie wieder sieht, plötzlich die Bedeutung und den Ausdruck alter Zeugen annehmen. Sie kommen mir vor, wie Leute, die man unbestimmt gekannt hat, ohne dass sie sich je offenbart hätten, und die plötzlich eines Abends ohne jede Veranlassung zu schwatzen beginnen, ohne wieder aufzuhören, und uns ihr ganzes Dasein und alle ihre Intimitäten erzählen, von denen wir nichts ahnten.
Und ich gehe vom einen zum anderen und mein Herz krampft sich wehmütig zusammen. Halt, sage ich mir, das habe ich an dem Abend zerbrochen, wo Paul nach Lyon abreiste. Oder: Ach, da ist ja die kleine Laterne, mit der Mama an den Winterabenden immer zum Gottesdienst ging!
Es sind auch Sachen darunter, die nichts sagen, die von den Großeltern herstammen, Dinge, die niemand unter den Lebenden gekannt hat, von denen sogar niemand weiß, wer sie besessen. Niemand hat die Hände gesehen, die sie angefasst, noch die Augen, die sie beschaut haben. Die geben mir lange zu denken! Sie kommen mir wie Verlassene vor, deren letzte Freunde gestorben sind…
Vielleicht, meine liebe Colette, wirst du das alles kaum begreifen, vielleicht wirst du über meine Einfalt und über meine kindlichen und sentimentalen Anwandlungen lachen. Du bist Pariserin, und Euch Pariserinnen ist dieses in sich gekehrte Leben, dieses ewige Zurückgreifen auf sein eigenes Herz etwas Unbekanntes. Ihr lebt nach außen, und alle eure Gedanken flattern in den Wind. Ich lebe allein, darum kann ich dir nur von mir erzählen. Wenn du mir aber antwortest, dann sprich mir auch ein wenig von dir, damit ich mich auch in deine Lage versetzen kann, wie du dich morgen in die meine wirst versetzen können.
Aber nie wirst du den Vers von Sainte-Beuve ganz verstehen:
»Im selben Haus geboren werden, leben
Und sterben…«
Tausend Küsse. Deine alte Freundin
Adelaide.
*
Magnetismus?
Die Herrengesellschaft war zu Ende, und damit begann das endlose Zigarrenrauchen und das unaufhörliche Liqueurtrinken im Rauche. Die Köpfe waren von dem vielen Durcheinander von Speisen und Getränken nicht mehr ganz klar, und eine schlaffe Verdauungsruhe herrschte.
Man kam auf den Magnetismus zu sprechen, auf die Wunderkuren Donatos und die Erfahrungen des Dr. Charcot. Und mit einem Male begannen diese blasierten, lächelnden, jeder Religion abholden Lebemänner, sich die merkwürdigsten Geschichten zu erzählen, lauter unglaubliche aber wahre Begebenheiten, wie sie versicherten; sie fielen plötzlich wieder in die abergläubischesten Vorstellungen zurück, klammerten sich an diesen letzten Rest des Geheimnisses an und beugten sich dem Magnetismus, den sie im Namen der Wissenschaft verteidigten…
Nur einer lächelte hartnäckig; er war ein übermütiger Gesell und großer Schürzenjäger; sein Unglauben war so fest eingewurzelt, dass er nicht einmal zulassen wollte, dass über diesen Gegenstand geredet wurde.
– Unsinn! Unsinn! Unsinn! rief er höhnisch dazwischen. Über Donato ist garnicht erst zu reden, er ist ganz einfach ein schäbiger Quacksalber. Und Herr Charcot, der ja ein namhafter Arzt sein soll, macht