Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
tötete nun nacheinander die Ankläger seines Oheims und riss ihnen die Augen aus, um den anderen die Lehre zu geben, dass sie nichts behaupten sollten, was sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätten.
Er tötete alle Verwandten und den ganzen Anhang der feindlichen Familie. Er brachte in seinem Leben vierzehn Gendarmen um, zündete die Häuser seiner Widersacher an und war bis zu seinem Tode der gefürchteteste Räuber, dessen man sich entsinnen kann. – – –
Die Sonne verschwand hinter dem Monte Cinto, und die mächtigen Schatten des Granitstockes legten sich auf den Granit des Tales. Wir beschleunigten unsern Schritt, um noch vor Anbruch der Nacht nach dem kleinen Dorfe Albertacce zu kommen, das wie ein großer Steinklumpen an den Rändern der wilden Schlucht klebte. Und ich sagte im Gedanken an den Banditen:
– Was für eine schreckliche Sitte ist doch Eure Vendetta!
– Was wollen Sie? entgegnete mein Begleiter. Man tut nur seine Pflicht!
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Die Totenwache
Sie war ruhig gestorben, ohne Todeskampf, wie ein Weib, das ein unsträfliches Leben hinter sich hat, und nun lag sie mit geschlossenen Augen und friedlichen Zügen auf ihrem Bette, als ob sie schliefe; ihr langes weißes Haar war sorgfältig frisiert, als ob sie es erst zehn Minuten vor ihrem Tode geordnet hätte. Ihr marmornes Totenantlitz drückte solche Sammlung und Ruhe, eine solche Ergebung aus, dass man sich wohl vorstellen konnte, welche schöne Seele in diesem Körper gewohnt, welches sturmlose Leben diese heitere Greisin geführt, welches friedliche Ende ohne Qualen und Gewissensbisse diese unsträfliche Frau gefunden hatte.
An ihrem Bette knieten in verzweifeltem Schluchzen ihr Sohn, ein Beamter von unbeugsamen Grundsätzen, und ihre Tochter Marguerite, die als Nonne Schwester Eulalia hieß. Sie hatte sie in strenger Moral erzogen, im Glauben ohne Wankelmut unterwiesen und mit unwandelbarem Pflichtgefühl beseelt. Der Sohn war Beamter geworden; er hielt das Gesetz hoch und schlug die Lässigen und Saumseligen mit unerbittlicher Strenge. Und die Tochter war im Drange der Tugend, mit der sie dieses fromme Haus erfüllt hatte, und weil sie die Menschen verschmähte, Gottes Braut geworden.
Ihren Vater hatten sie nicht gekannt; sie wussten nur, dass er ihre Mutter unglücklich gemacht hatte; Einzelheiten hatten sie nie erfahren.
Die Nonne drückte in irrem Schmerz einen Kuss auf die herabhängende Elfenbeinhand der Toten, eine wahre Christushand. Die andere Hand, die auf der anderen Seite des hingestreckten Körpers ruhte, hatte sich noch vom Todeskampf her mit irrendem Tasten in das Betttuch gekrampft, und das Leinen lag noch in kleinen weißen, welligen Falten, wie in Erinnerung an diese letzten Bewegungen, die der ewigen Unbeweglichkeit vorausgehen.
Es klopfte leise an die Tür und die beiden verweinten Gesichter blickten auf. Es war der Priester, der vom Essen kam und eben eintrat. Er war rot und pustete von der beginnenden Verdauung, denn er hatte viel Cognac in den Kaffee gegossen, um die Müdigkeit der letzten verwachten Nächte und der bevorstehenden Nacht zu bekämpfen.
Er blickte traurig drein, mit jener berufsmäßigen Traurigkeit, hinter der die Freude über den einträglichen Todesfall grinst. Er machte das Zeichen des Kreuzes und kam in berufsmäßiger Gangart näher. »Meine lieben Kinder«, hub er an, »lasst mich Euch helfen, diese traurigen Stunden zu verbringen.« Aber Schwester Eulalia richtete sich plötzlich auf und sagte: »Danke, mein Vater, aber es ist unser beider Wunsch, allein bei der Toten zu bleiben. Es sind dies die letzten Augenblicke, wo wir sie sehen, und da wollen wir wieder alle drei zusammen sein, wie einst, als wir… als wir klein waren und unsere arme… arme Mutter…« Weiter kam sie nicht; der Schmerz und die hervorbrechenden Tränen erstickten ihre Stimme.
Der Priester verneigte sich; im Grunde freute er sich auf sein Bett. »Wie Ihr wollt, meine lieben Kinder«, sagte er salbungsvoll, kniete nieder, bekreuzigte sich, verrichtete sein Gebet, stand wieder auf und verließ das Zimmer mit sanften Schritten. »Sie war eine Heilige!« murmelte er.
Nun waren sie wieder allein, die Tote und ihre Kinder. Eine Wanduhr, die man nicht sah, unterbrach das Schweigen mit regelmäßigem Ticken, und durch das offene Fenster quoll der weiche Duft des Heus und der Wälder mit dem sehnsüchtigen Schimmer des Mondes herein. Alles war still; nur zitternde Unkenrufe vernahm man, und zuweilen das nächtliche Surren eines Insekts, das wie eine Kugel hereingeflogen kam und brummend an die Wand stieß. Unendlicher Frieden, himmlische Schwermut und schweigende Heiterkeit waren um diese Tote, sie schienen von ihr auszugehen und sich besänftigend auf die Natur ringsum zu legen.
Da schluchzte der Beamte, der noch immer auf den Knien lag und das Haupt in die Leinentücher des Bettes vergraben hatte, plötzlich mit heiserer, herzbrechender Stimme durch Decken und Tücher hindurch: »O Mutter! Mutter! Mutter!« Und die Schwester warf sich wild auf den Fußboden nieder und schlug mit rasender Stirn gegen den Bettpfosten. Sie wand sich krampfhaft am Boden und zitterte, wie bei einem epileptischen Anfall. »Jesus! Jesus! O Mutter! Jesus!« hauchte sie.
Dann keuchten und röchelten beide, wie von einem Schmerzensorkan gepeitscht. Nur allmählich ließ der Anfall nach und machte einem sanften Weinen Platz, wie windstille Regengüsse nach Gewitterböen auf tobendem Meere.
Erst lange nachher erhoben sie sich wieder und begannen die teure Leiche zu betrachten. Und die Erinnerung, die gestern noch so süße, heute so quälende Erinnerung, befiel ihren Geist mit allen ihren vergessenen Einzelheiten, allen ihren intimen und trauten Kleinigkeiten; und die geliebte Tote lebte ihnen wieder auf. Sie erinnerten sich der mannigfachsten Lebenslagen, der Worte, des Lächelns, des Stimmfalls der Frau, die nun nie mehr mit ihnen reden sollte. Sie vergegenwärtigten sie sich in ihrer glücklichen Ruhe, sie entsannen sich aller Worte, die sie zu gebrauchen pflegte, und einer gewissen kleinen Handbewegung, die sie bisweilen machte, wenn sie ein wichtiges Gespräch führte.
Und sie liebten sie, wie sie sie nie geliebt hatten, und ermaßen an ihrer Verzweiflung, wie teuer sie ihnen gewesen war, wie allein und verlassen sie jetzt waren.
Sie war ihr Halt, ihr Leitstern gewesen; ihre ganze Jugend, die ganze fröhliche Hälfte ihres Daseins war mit ihr dahin; das Band, das sie an’s Leben geknüpft, ihre Mutter, der Leib, der sie geboren, das Glied, das sie an die Kette der Vorfahren gebunden, war zerrissen. Von nun an würden sie allein und vereinsamt sein und nicht mehr zurückblicken können.
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