Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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ja ge­wiss! Und dann – wer weiß? – viel­leicht auch ein Blick von ihr, den ich nicht be­merkt hat­te, und den mir mein Ge­dächt­nis an je­dem Abend wie­der wachrief; denn es gibt ja sol­che ge­heim­nis­vol­len und un­be­wuss­ten Erin­ne­run­gen, wel­che ge­ra­de Das wie­der­ge­ben, was un­ser Be­wusst­sein ver­nach­läs­sigt und un­ser In­tel­lekt nicht be­ach­tet hat!

      – Nun, wie Sie wol­len, schloss ei­ner der Gäs­te. Aber wenn Sie hier­auf nicht an Ma­gne­tis­mus glau­ben, dann, mein ver­ehr­ter Herr, sind Sie ein ganz un­dank­ba­rer Mensch!

      *

      Der Weg stieg im Wal­de von Aïto­na sanft an. Rie­si­ge Pi­ni­en wölb­ten sich über uns zum seuf­zen­den Da­che und rausch­ten in ewi­ger Schwer­mut; rechts und links stie­gen ihre ge­ra­den dün­nen Stäm­me wie ein Meer von Or­gel­pfei­fen em­por, aus de­nen die ein­tö­ni­ge Mu­sik des Win­des in den Baum­kro­nen her­vor­zu­quel­len schi­en.

      Nach drei­stün­di­gem Mar­sche lich­te­te sich die­ses Durchein­an­der von lan­gen Baum­schäf­ten; hin und wie­der wölb­te eine rie­si­ge, al­lein­ste­hen­de Pi­nie, de­ren Wip­fel sich wie ein un­ge­heu­res Schirm­dach aus­spann­ten, ihr dunkles Grün, und plötz­lich er­reich­ten wir den Wald­rand ein paar hun­dert Schritt un­ter­halb der Enge, die in das wil­de Nio­lo­tal führt.

      Auf den bei­den hoch­ra­gen­den Kup­pen, die die­se Stel­le über­rag­ten, er­ho­ben sich ein paar un­för­mi­ge alte Bäu­me, die dem nach­fol­gen­den Ge­wim­mel wie Auf­klä­rer vor­an­zu­ge­hen schie­nen. Als wir uns um­dreh­ten, sa­hen wir den gan­zen Wald sich vor uns deh­nen, wie ein un­ge­heu­res Be­cken vol­ler Grün, des­sen Rän­der, von nack­ten Fel­sen um­starrt, an den Him­mel zu sto­ßen schie­nen.

      Wir gin­gen wei­ter und hat­ten den Hohl­weg nach zehn Mi­nu­ten er­reicht. Eine er­staun­li­che Land­schaft er­schloss sich da. Hin­ter ei­nem neu­en Wal­de lag ein Tal, wie ich es noch nie ge­se­hen, eine Stein­wüs­te von zehn Mei­len Län­ge, von fünf­tau­send Fuß ho­hen Ber­gen ein­ge­schlos­sen, nir­gends ein be­bau­tes Feld oder ein Baum. Es war das Nio­lo­tal, die Hei­mat der kor­si­schen Frei­heit, das un­be­zwing­ba­re Boll­werk, aus dem noch kein Ero­be­rer das Berg­volk ver­drängt hat.

      – Hier flüch­ten sich auch alle un­se­re Ban­di­ten hin, mein­te mein Beglei­ter.

      Bald schrit­ten wir auf der Tal­soh­le die­ses wil­den und un­ver­gleich­lich schö­nen Berg­kes­sels. Kein Halm, kei­ne Pflan­ze war um­her, nichts als Gra­nit, so­weit das Auge reich­te, eine leuch­ten­de Gra­nit­wüs­te, wel­che die pral­le Son­ne wie einen Back­ofen durch­glüh­te. Es war, als ob sie ei­gens über die­sen Stein­topf schweb­te. Wenn man die Au­gen zu den Fels­gra­ten er­hob, blieb man ge­blen­det und ge­bannt ste­hen. Sie schie­nen rot und ge­zähnt, wie lan­ge Koral­len­schnü­re, die zwi­schen den ro­ten Por­phyr­gip­feln auf­ge­hängt wa­ren, und der Him­mel dar­über war von sat­tem, veil­chen­far­be­nen Tone; so ver­färb­te er sich in der Nähe die­ser selt­sa­men Fels­zin­ken. Wei­ter un­ten war der Gra­nit von ste­chen­dem Grau und un­ter un­sern Fü­ßen war er wie zer­mah­len und zer­körnt; wir schrit­ten auf fun­keln­dem Stau­be. Uns zur Rech­ten zuck­te in lan­gem, ge­wun­de­nen Bet­te ein un­ge­stü­mer Berg­bach. Wie be­täubt wank­te man un­ter die­ser schwe­ben­den Glut, in die­sem Licht­meer durch das nack­te, bren­nen­de, tro­ckene, wil­de Tal, dem das schäu­men­de Wild­was­ser in Hast zu entei­len schi­en; denn es war ohn­mäch­tig, die­ses Ge­stein zu be­feuch­ten, und ver­lo­ren in die­sem Schmelzofen, der es gie­rig auf­saug­te, ohne je da­von durch­tränkt und er­frischt zu wer­den…

      Zu un­se­rer Rech­ten tauch­te plötz­lich ein klei­nes Holz­kreuz auf, das in einen Stein­hau­fen steck­te. Dort war ei­ner ge­tö­tet wor­den.

      – Er­zählt mir doch et­was von Eu­ren Ban­di­ten, bat ich mei­nen Ge­fähr­ten.

      – Den be­rühm­tes­ten da­von habe ich selbst ge­kannt, rühm­te er; es war der schreck­li­che San­ta Lu­cia; des­sen Ge­schich­te will ich Ih­nen er­zäh­len.

      Sein Va­ter war im Streit er­schla­gen wor­den; ein jun­ger Mann die­ses Lan­des soll­te den Mord be­gan­gen ha­ben, und San­ta Lu­cia blieb al­lein mit sei­ner Schwes­ter zu­rück. Er war ein schwa­cher, furcht­sa­mer Kna­be, klein, oft­mals krank und ohne ir­gend­wel­che Wil­lens­kraft. Dem Mör­der sei­nes Va­ters schwur er kei­ne Ven­det­ta. Alle sei­ne Ver­wand­ten ka­men zu ihm und be­schwo­ren ihm hoch und hei­lig, sich zu rä­chen; aber er blieb taub ge­gen ihr Fle­hen und selbst ge­gen ihre Dro­hun­gen.

      Da nahm ihm sei­ne Schwes­ter nach al­tem kor­si­schen Brau­che ent­rüs­tet sei­ne schwar­zen Klei­der fort, da­mit er nicht um einen To­ten trau­er­te, der un­ge­rächt ge­blie­ben. Aber selbst da­ge­gen blieb er un­emp­find­lich, und an­statt die noch ge­la­de­ne Flin­te sei­nes Va­ters her­un­ter zu neh­men, schloss er sich ein und zeig­te sich nir­gends mehr, denn er wag­te den ver­ächt­li­chen Bli­cken sei­ner Al­ters­ge­nos­sen nicht Trotz zu bie­ten.

      So ver­gin­gen Mon­de. Es schi­en, als hät­te er die Un­tat ganz ver­ges­sen und leb­te mit sei­ner Schwes­ter in der Tie­fe ih­rer ge­mein­sa­men Be­hau­sung.

      Ei­nes Ta­ges nun hei­ra­te­te der, den man des Mor­des be­zich­tig­te. San­ta Lu­cia schi­en die­se Nach­richt nicht zu rüh­ren, und der Bräu­ti­gam ging auf dem Wege zur Kir­che, wie um ihn her­aus­zu­for­dern, an dem Hau­se der bei­den Wai­sen vor­bei. Bru­der und Schwes­ter sa­ßen ge­ra­de am Fens­ter und aßen Ge­ba­cke­nes, als der Bur­sche den Braut­zug er­blick­te, der vor sei­ner Woh­nung vor­bei­zog. Plötz­lich über­kam ihn ein Zit­tern; er stand auf, ohne ein Wort zu sa­gen, be­kreu­zig­te sich, lang­te die Flin­te von der Herd­wand her­un­ter und ging her­aus.

      Wenn er spä­ter hier­auf zu spre­chen kam, pfleg­te er zu sa­gen: »Ich weiß nicht, was mir war, aber ich hat­te es im Blu­te; ich fühl­te, es muss­te so sein, ich könn­te doch nicht wi­der­ste­hen, und dar­um ging ich und ver­steck­te die Flin­te im Rohr an der Stra­ße nach Cor­te.«

      Eine Stun­de dar­auf kehr­te er mit lee­ren Hän­den und sei­ner all­täg­li­chen Mie­ne zu­rück. Sei­ne Schwes­ter glaub­te, dass er an nichts mehr däch­te. Aber des Nachts ver­schwand er.

      Sein Feind muss­te noch in der­sel­ben Nacht mit sei­nen bei­den Hoch­zeits­bit­tern zu Fuße nach Cor­te ge­hen. Sie schrit­ten sin­gend auf der Stra­ße ein­her, als plötz­lich San­ta Lu­cia vor ih­nen auf­tauch­te und den Mör­der an­blitz­te. »Jetzt ist’s Zeit!« schrie er und jag­te ihm einen wohl­ge­ziel­ten Schuss durch die Brust.

      Ei­ner der Hoch­zeits­bit­ter lief da­von, der an­de­re blick­te ihn an und frag­te: »Was hast du da ge­tan, San­ta Lu­cia?«

      Da­mit woll­te er nach Cor­te lau­fen und Hil­fe ho­len. Aber San­ta Lu­cia wet­ter­te ihn an: »Steh oder ich schie­ße dir dein Bein ent­zwei!« Der an­de­re, der sei­ne bis­he­ri­ge Furcht­sam­keit kann­te, er­wi­der­te ge­ring­schät­zig: »Das wagst du ja doch nicht!« und ging. Aber da krach­te schon der Schuss und er brach zu­sam­men; die Ku­gel hat­te ein Bein zer­schmet­tert.

      San­ta Lu­cia kam nä­her. »Ich will dei­ne Wun­de be­se­hen«, sag­te er. »Ist sie nicht schwer, so wer­de ich dich hier lie­gen las­sen; ist sie töt­lich, so wer­de ich dir den Rest ge­ben.«

      Da­mit


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