Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Strohsesseln und rauchten die Pfeife. Träge schlichen die Menschen dahin, mit entblößtem Kopf, den Hut in der Hand tragend.
Als Georges Duroy den Boulevard erreichte, blieb er stehen, unschlüssig, was er nun tun sollte. Er hatte Lust, in die Champs Elysée und die Avenue du Bois de Boulogne zu gehen, um unter den Bäumen etwas frische Luft zu schöpfen.
Aber ein anderes Verlangen regte sich in ihm, und zwar nach einem Liebesabenteuer. Wie ihm so ein Abenteuer in den Weg laufen sollte, davon hatte er keine Ahnung, aber seit drei Monaten wartete er darauf jeden Tag und jeden Abend. Dank seiner schönen, stattlichen Erscheinung hatte er wohl hier und da ein bisschen Liebe kosten dürfen; genügen tat ihm das nicht, er hoffte immer auf mehr und auf Besseres.
Mit heißem Blut aber leerer Tasche erregten ihn die Dirnen, die ihm an den Straßenecken zumurmelten: »Komm mit, feiner Junge«, doch er getraute sich nicht, ihnen zu folgen, denn bezahlen konnte er sie nicht, und dann träumte er auch von anderem, von etwas vornehmerer Liebe und minder gemeinen Küssen.
Trotzdem liebte er die Orte, wo es von jenen öffentlichen Mädchen wimmelte; er suchte gern ihre Ballokale, ihre Cafés, ihre Straßen auf. Er liebte, sie anzusprechen, sie zu duzen, ihre aufdringlichen Parfüms einzuatmen und ihre Nähe zu fühlen. Sie waren doch schließlich Frauen; Frauen, die zur Liebe bestimmt waren. Verachten tat er sie nicht, so wie jeder Mann sie verachtete, der im Schoß der Familie aufgewachsen ist.
Er lenkte seine Schritte nach der Madeleinekirche und folgte dem Menschenstrom, der sich, von der Hitze bedrückt, schwerfällig dahinwälzte.
Die Cafés waren überfüllt, dichtgedrängt saßen die Menschen am Bürgersteig, im grellen, blendenden Licht der erleuchteten Fenster. Vor ihnen auf kleinen runden oder viereckigen Tischen standen Gläser mit roten, gelben, grünen und in allen Farben schillernden Flüssigkeiten, und in den Karaffen sah man große, durchsichtige Eisstücke glänzen, die das schöne, klare Wasser kühlten.
Duroys Schritte wurden langsamer, und das Verlangen nach einem erfrischenden Getränk trocknete ihm die Kehle. Ihn packte ein glühender Durst, ein Durst eines heißen Sommerabends; er dachte immerfort an das köstliche Gefühl, wenn ihm etwas Kaltes durch die Kehle rinnt. Wenn er sich aber heute auch nur zwei Glas Bier gestattete, dann war es morgen mit seinem kargen Abendbrot vorbei, und die Stunden des Hungers am Monatsende waren ihm nur zu wohl bekannt.
Er sagte sich: »Bis zehn Uhr muss ich aushalten, und dann trinke ich einen Bock à l’Americain. Donnerwetter, habe ich jetzt einen Durst!« Und er blickte all diese Menschen an, die an den Tischen saßen, tranken und ihren Durst löschen konnten, so viel sie wollten. Und während er äußerlich keck und zuversichtlich an den Cafés vorüberging, taxierte er mit raschem Blick nach dem Aussehen und der Kleidung eines jeden Gastes, wie viel Geld er wohl mit sich trug. Eine Wut ergriff ihn gegen diese ruhig dasitzenden Leute. Wenn man ihre Taschen durchsuchte, so würde man Gold, Silber und Kleingeld finden. Durchschnittlich musste jeder wohl zwei Zwanzigfrancsstücke bei sich haben, etwa hundert Menschen saßen in jedem Café, und hundertmal zweimal zwanzig macht viertausend Francs. »Schweinehunde!« murmelte er vor sich hin und ging mit wiegenden Schritten weiter. Hätte er nur einen an irgendeiner dunklen Straßenecke fassen können, würde er ihm weiß Gott ohne Bedenken den Hals umgedreht haben, wie er es mit den Dorfhühnern an den Tagen der großen Manöver tat.
Er dachte an seine zwei Dienstjahre in Afrika und an die Art und Weise, wie man in den kleinen Vorposten im Süden den Arabern das Geld abnahm. Ein grausames, zufriedenes Lächeln glitt über seine Lippen, als er eines Streiches gedachte, der drei Männern vom Stamme der Uled-Alan das Leben kostete und ihm und seinen Kameraden zwanzig Hühner, zwei Schafe und Gold einbrachte und heiteren Gesprächsstoff für sechs Monate.
Die Schuldigen waren nie entdeckt worden, man hatte sie auch freilich nie gesucht, da der Araber sozusagen als natürliche Beute der Soldaten galt.
In Paris war das anders. Hier konnte man nicht mit dem Säbel an der Seite und dem Revolver in der Faust, fern vom wachsamen Auge der bürgerlichen Gerichtsbarkeit, in voller Freiheit herumplündern.
Wahrhaftig, er dachte mit Wehmut an diese zwei Jahre in der Wüste zurück. Wie schade, dass er nicht da unten geblieben war! Er hatte sich Besseres erhofft, als er heimkehrte. Und nun … Ach ja, jetzt hatte er, was er wollte!
Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er konstatieren, wie völlig ausgedörrt sein Mund schon wäre.
Langsam und müde schob sich die Menge an ihm vorüber, und er dachte immer noch: »Dieses Pack! All diese Idioten haben Geld in der Westentasche!« Er rempelte die Menschen an und pfiff dazu eine lustige Melodie. Männer, die er geschubst hatte, drehten sich schimpfend um, und die Frauen riefen entrüstet: »Ungezogener Lümmel!« Er ging am Vaudeville vorbei und blieb vor dem Café Americain stehen. Er fragte sich, ob er nicht doch ein Glas Bier trinken sollte, so quälte ihn der Durst. Ehe er sich entschloss, sah er auf die beleuchtete Uhr mitten auf dem Fahrdamm. Es war ein Viertel nach neun. Er kannte sich zu genau: sobald das Glas Bier vor ihm stünde, würde er es mit einem Zug hinunterschlucken. Was sollte er dann bis elf Uhr anfangen?
Er überlegte: »Ich gehe noch bis zur Madeleine und kehre dann langsam zurück.«
Als er an die Ecke des Place de l’Opera kam, begegnete er einem dicken jungen Manne, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt erschien.
Er folgte ihm und suchte sich zu erinnern, während er halblaut vor sich hinsprach: »Zum Teufel, wo kenne ich diesen Kerl her?«
Er ging und grübelte, ohne dass es ihm einfiel; dann plötzlich erschien ihm derselbe Mensch durch einen eigentümlichen Vorgang des Gedächtnisses weniger dick, jünger, in Husarenuniform. »Halt, Forestier!« rief er laut, beschleunigte seine Schritte und klopfte dem vor ihm Gehenden auf die Schulter. Dieser wandte sich um, blickte ihn an und sagte:
»Was wünschen Sie, mein Herr?«
Duroy lachte: »Erkennst du mich nicht?«
»Nein.«
»George Duroy von den 6. Husaren.«
Forestier streckte ihm beide Hände entgegen: »Du bist es, Alter! Wie geht es dir?«
»Ausgezeichnet. Und dir?«
»Mir geht es nicht allzu gut. Denke dir, meine Brust ist wie aus Papiermaché. Sechs Monate im Jahr quält mich ein Husten, die Folge einer Bronchitis, die ich mir in Bougival geholt habe kurz nach meiner Rückkehr nach Paris. Es sind jetzt schon vier Jahre her.«