Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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und ganz in das Aben­teu­er des Bu­ches ver­sun­ken.

      Sie saß ihm ge­gen­über und blick­te ihn starr und voll in­ne­rer Er­re­gung an; sie wun­der­te sich über sei­ne ge­spann­te Auf­merk­sam­keit und war vol­ler Ei­fer­sucht; die Trä­nen wa­ren ihr nahe.

      Zu­wei­len sag­te sie zu ihm: »Du wirst dich müde ma­chen, mein Schatz!«, denn sie hoff­te, dass er die Au­gen auf­schla­gen und sie küs­sen wür­de. Aber er ant­wor­te­te nicht ein­mal; er sah und hör­te nichts und wuss­te von nichts andrem, als was auf den Sei­ten des Bu­ches stand.

      So ver­schlang er zwei Jah­re lang un­ge­zähl­te Bän­de. Sein Cha­rak­ter ver­än­der­te sich.

      In der Fol­ge bat er Fräu­lein Sour­ce mehr­mals um Geld, und sie gab es ihm. Da er aber im­mer mehr woll­te, schlug sie es ihm schließ­lich aus, denn sie war haus­häl­te­risch und ener­gisch und wuss­te am rech­ten Plat­ze ver­nünf­tig zu sein.

      Er setz­te ihr aber so lan­ge zu, bis sie ihm ei­nes Abends doch noch ein­mal eine be­trächt­li­che Sum­me gab; als er aber ein paar Tage spä­ter wie­der­kam und bet­tel­te, zeig­te sie sich un­er­bitt­lich und gab tat­säch­lich nicht mehr nach.

      Da schi­en er sei­nen Ent­schluss zu fas­sen. Er wur­de wie­der ru­hig, wie vor­dem, saß wie­der Stun­den lang un­be­weg­lich, ohne einen Ton von sich zu ge­ben, mit ge­senk­ten Au­gen, in sei­ne Träu­me­rei­en ver­lo­ren. Er sprach nicht mehr mit Fräu­lein Sour­ce und ant­wor­te­te auf ihre Fra­gen kaum mit kur­z­en und knap­pen Sät­zen.

      Trotz­dem war er auf­merk­sam ge­gen sie, vol­ler Rück­sicht, aber er küss­te sie nie mehr.

      Am Abend, wenn sie schwei­gend und un­be­weg­lich rechts und links vom Feu­er sa­ßen, flö­ßte er ihr jetzt manch­mal Furcht ein. Sie woll­te ihn auf­rüt­teln, woll­te ir­gen­det­was sa­gen, um aus die­sem schreck­li­chen Schwei­gen her­aus­zu­kom­men, das so un­heim­lich war, wie ein fins­te­rer Wald. Aber er schi­en sie nicht zu hö­ren, und sie beb­te vor Schre­cken, die arme alte Jung­fer, wenn sie fünf- oder sechs­mal zu ihm ge­spro­chen hat­te, ohne ein ein­zi­ges Wort zu be­kom­men.

      Was hat­te er? Was ging in die­sem ver­schlos­se­nen Kop­fe vor? Wenn sie so zwei oder drei Stun­den ihm ge­gen­über ge­ses­sen hat­te, fühl­te sie den Wahn­sinn na­hen; sie woll­te flie­hen und sich ins Freie ret­ten, um die­sem ewi­gen stum­men Bei­sam­men­sein zu ent­ge­hen, sie bang­te vor ei­ner un­be­stimm­ten Ge­fahr, ohne doch recht zu wis­sen, wes­halb.

      Und oft wein­te sie ganz al­lein.

      Was hat­te er? Sprach sie einen Wunsch aus – er führ­te ihn ohne Mur­ren aus. Brauch­te sie et­was aus der Stadt – so­gleich ging er hin. Sie hat­te sich über ihn ge­wiss nicht zu be­kla­gen. Und doch…

      So ver­ging noch ein Jahr, und es schi­en ihr, als hät­te sich in dem Geis­te des ge­heim­nis­vol­len Jun­gen eine neue Wand­lung voll­zo­gen. Sie spür­te es, sie ahn­te es, sie wuss­te nicht wie, aber sie war des­sen si­cher; sie wuss­te, dass sie sich nicht täusch­te, aber sie wäre nicht im­stan­de ge­we­sen zu sa­gen, worin die un­be­kann­ten Ge­dan­ken die­ses selt­sa­men Kna­ben sich ge­än­dert hat­ten.

      Ihr schi­en nur, als ob er bis da­hin ein zau­dern­des Men­schen­kind ge­we­sen wäre und jetzt plötz­lich einen Ent­schluss ge­fasst hät­te. Die­ser Ge­dan­ke kam ihr ei­nes Abends, als sie sei­nem Bli­cke be­geg­ne­te, ei­nem ei­gen­tüm­li­chen, star­ren Bli­cke, den sie nicht kann­te.

      All­mäh­lich be­gann er sie alle Au­gen­bli­cke so an­zu­se­hen, und sie hät­te sich dann am liebs­ten ver­steckt, um die­sem kal­ten Auge aus­zu­wei­chen, das auf ihr ruh­te.

      Bald blick­te er sie gan­ze Aben­de lang an und wand­te den Blick nur ab, wenn sie es schließ­lich nicht mehr er­tra­gen konn­te und zu ihm sag­te:

      – Sieh mich doch nicht im­mer so an, mein Kind!

      Dann senk­te er den Kopf.

      So­bald sie ihm aber den Rücken ge­kehrt hat­te, fühl­te sie von Neu­em sein Auge auf ihr ru­hen. Wo­hin sie auch ging, über­all ver­folg­te er sie mit sei­nen be­harr­li­chen Bli­cken.

      Manch­mal, wenn sie in ih­rem Gärt­chen spa­zie­ren ging, er­blick­te sie ihn plötz­lich in ei­nem Ge­bü­sche zu­sam­men­ge­kau­ert, als ob er im Hin­ter­halt läge. Oder wenn sie in ih­rer Haus­tür saß und St­rümp­fe aus­bes­ser­te, wäh­rend er ein Ge­mü­se­beet um­grub, blick­te er sie bei der Ar­beit mit heim­tücki­schen Bli­cken un­aus­ge­setzt an.

      Ver­ge­bens frag­te sie ihn:

      – Was hast du, mein Klei­ner? Seit drei Jah­ren bist du so ganz an­ders ge­wor­den. Ich er­ken­ne dich nicht mehr wie­der. Sage mir doch, was du hast, was du denkst, ich be­schwö­re dich.

      Er ant­wor­te­te dann im­mer mit dem­sel­ben ru­hi­gen, er­mü­de­ten Tone:

      – Aber ich habe nichts, Tan­te.

      Und wenn sie in ihn drang und ihn be­schwor:

      – Mein Kind, ant­wor­te mir doch, ant­wor­te mir doch, wenn ich dich fra­ge. Wenn du wüss­test, wel­chen Kum­mer du mir be­rei­test, du wür­dest mir im­mer ant­wor­ten und wür­dest mich nicht im­mer so an­bli­cken. Hast du ir­gend ein Leid? Sa­ge’s mir, ich wer­de dich trös­ten…

      Dann ging er mit mü­dem We­sen und mur­mel­te:

      – Ich ver­si­che­re dich, ich habe nichts.

      Er war nicht viel grö­ßer ge­wor­den; er hat­te im­mer noch das An­se­hen ei­nes Kin­des, wie­wohl er die Züge ei­nes Man­nes trug. Sie wa­ren hart und doch un­fer­tig. Er schi­en un­voll­en­det, schlecht ge­ra­ten und gleich­sam nur hin­ge­wor­fen zu sein, und be­un­ru­hi­gend war er wie ein Ge­heim­nis. Ein ver­schlos­se­nes, un­durch­dring­li­ches We­sen, in dem je­den Au­gen­blick eine tä­ti­ge und ge­fähr­li­che Geis­tes­ar­beit vor sich zu ge­hen schi­en.

      Fräu­lein Sour­ce emp­fand das al­les sehr wohl und schlief vor Angst nicht mehr. Schreck­li­che Be­klem­mun­gen, ent­setz­li­che Träu­me quäl­ten sie oft. Sie schloss sich in ihr Zim­mer ein und ver­bar­ri­ka­dier­te ihre Tür; so ängs­tig­te sie das Un­be­stimm­te.

      Wo­vor fürch­te­te sie sich? Sie wuss­te es sel­ber nicht. Sie fürch­te­te sich vor al­lem, vor der Nacht, den Wän­den, den Ge­stal­ten, die der Mond durch die ge­blüm­ten wei­ßen Vor­hän­ge hin­durch­warf, und vor al­lem – vor ihm!

      Wa­rum? Was hat­te sie zu fürch­ten? Wuss­te sie es?

      Und doch konn­te sie so nicht län­ger le­ben. Sie war si­cher, dass ein Un­glück sie be­droh­te, ein schreck­li­ches Un­glück.

      Ei­nes Mor­gens brach sie ins­ge­heim auf und ging nach der Stadt zu ih­ren Ver­wand­ten. Sie er­zähl­te ih­nen al­les mit be­ben­der Stim­me. Die bei­den Frau­en dach­ten, dass sie ver­rückt wür­de, und such­ten sie zu be­ru­hi­gen.

      – Wenn ihr nur wüss­tet, klag­te sie, wie er mich von mor­gens bis abends an­starrt! Sei­ne Au­gen ver­las­sen mich nie. Zu­wei­len möch­te ich am liebs­ten um Hil­fe schrei­en und die Nach­barn her­bei­ru­fen, so fürch­te ich mich. Aber was soll­te ich ih­nen sa­gen? Er tut mir ja nichts, als dass er mich an­blickt.

      – Ist er denn zu­wei­len bru­tal ge­gen dich? frag­ten die bei­den Kou­si­nen. Gibt er dir fre­che Ant­wor­ten?

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