Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
die »République Française« und die »Justice.«
Und alsbald erschien Josef Mouradour, wieder ganz in blau, auf der Schwelle, mit der Lektüre des »Intransigeant« beschäftigt.
– Hier, rief er, steht ein famoser Artikel von Rochefort. Der Kerl ist wirklich überraschend.
Er las ihn dann mit lauter Stimme vor, indem er auf die Kraftstellen einen besonderen Nachdruck legte, und war so begeistert, dass er das Erscheinen seines Freundes garnicht bemerkte.
Herr von Märoul trat mit dem »Gaulois« und dem »Clairon« in der Hand ein, diesen für seine Frau, jenen für sich mitbringend. Er hörte, wie die glühende Prosa des meisterhaften Schriftstellers, der das Kaiserreich niederdonnerte, in südlichen Akzenten und leidenschaftlicher Tonart vorgetragen, durch das friedliche Zimmer scholl, die alten Gardinen mit ihren graden Falten in Schwingung versetzte, und die Wände, die großen gewirkten Lehnstühle, die ganzen schweren Möbel, die seit einem Jahrhundert auf demselben Fleck standen, mit einem Hagel herumschnellender, boshafter, höhnender, vernichtender Worte überschüttete…
Mann und Frau, er stehend, sie sitzend, hörten mit Staunen zu und ärgerten sich dermaßen, dass sie kein Glied rührten.
Mouradour schmetterte das Finale heraus, wie man eine Rakete abbrennt, und fragte dann in triumphierendem Tone:
– Was? Ist das nicht gut gesalzen?
Plötzlich aber bemerkte er die beiden Blätter, die sein Freund mitgebracht hatte, und blieb diesmal selbst vor Staunen starr. Dann eilte er mit großen Schritten auf ihn zu und fragte mit wütender Stimme:
– Was willst du mit den Wischen da?
– Aber… machte Herr von Méroul zögernd, das sind ja meine… meine Zeitungen!
– Deine… Zeitungen? Ei sieh, du machst dich wohl über mich lustig! Du wirst mir das Vergnügen machen, die meinen zu lesen; die werden dir den Kopf zurechtsetzen. Die deinen aber… sieh mal, das mach’ ich mit ihnen, das…
Und ehe sein verdutzter Wirt etwas dagegen tun konnte, hatte er die beiden Blatter ergriffen und zum Fenster hinaus geschleudert. Dann überreichte er die »Justice« mit wichtiger Gebärde der Frau von Méroul, übergab den »Voltaire« ihrem Gatten und ließ sich selbst in ein Fauteuil fallen, um den »Intransigeant« zu Ende zu lesen.
Mann und Frau taten anstandshalber so, als läsen sie etwas darin und gaben ihm darauf die republikanischen Blätter zurück, fassten sie dabei aber nur mit den Fingerspitzen an, als wären sie vergiftet.
Da lachte er, lachte laut und erklärte:
– Acht Tage diese Kost und ich bekehre Euch zu meinen Ideen!
Nach acht Tagen war er wirklich der Herr im Hause. Er hatte dem Pfarrer die Tür verschlossen; Frau von Méroul besuchte ihn nur insgeheim; er hatte verboten, dass der »Gaulois« und der»Clairon« ins Haus kamen; dafür wurden sie von einem Bedienten heimlich von der Post geholt, und wenn er erschien, unter das Sophakissen versteckt; er bestimmte alles nach seinem Gutdünken und war stets bezaubernd und jovial in seiner tyrannischen Allmacht…
Indessen wurden andere Bekannte erwartet, gute und fromme Legitimisten. Ein Zusammentreffen mit ihm hielten die Gastgeber für unmöglich, und da sie nicht wussten, was sie tun sollten, erklärten sie ihm eines Abends, dass sie genötigt wären, einer kleinen Angelegenheit halber für ein paar Tage zu verreisen und ihn allein zu lassen.
– Sehr wohl, erklärte er, das ist mir ganz gleichgültig. Ich warte hier auf Euch, solange Ihr wollt. Ich sagte Euch ja gleich zu Anfang: Unter Freunden keinen Zwang! Teufel auch, Ihr tut ganz recht daran, wenn Ihr zu Eurer Geschichte da fahrt. Ich nehme Euch das nicht übel, im Gegenteil! Das benimmt mir den letzten Rest von Zwang Euch gegenüber. Geht nur, meine Verehrtesten, ich warte auf Euch!
Herr und Frau von Méroul reisten am folgenden Tage ab.
Er wartet noch auf sie.
*
Das Pflegekind
Fräulein Source hatte diesen Knaben unter sehr traurigen Umständen adoptiert. Sie war damals sechsunddreißig Jahre alt, und ihre Hässlichkeit – sie war als Kind von den Knien des Kindermädchens in den Kamin gerutscht und hatte sich ihr ganzes Gesicht furchtbar verbrannt, sodass sie noch immer höchst garstig aussah – ihre Hässlichkeit hatte sie bestimmt, nicht zu heiraten, denn sie wollte nicht ihres Geldes wegen geheiratet werden.
Eine Nachbarin wurde, als sie in guter Hoffnung war, plötzlich Witwe und starb darauf im Wochenbett, nicht einen Pfennig hinterlassend. Fräulein Source nahm sich des Neugeborenen an, tat das Kind zur Amme, erzog es, schickte es in eine Pension und nahm es dann im Alter von vierzehn Jahren wieder zu sich, um in ihrem leeren Hause ein Wesen zu haben, das sie liebte, sich um sie kümmerte und ihr Alter sonnig machte. Sie hatte einen kleinen Landsitz vier Stunden von Rennes und lebte jetzt ohne Magd. Die Ausgaben hatten sich seit der Ankunft dieses Waisenknaben um mehr als das Doppelte gesteigert und ihre dreitausend Frank Rente konnten nicht hinreichen, um drei Personen zu ernähren.
Sie führte nun selbst den Haushalt, kochte, und schickte den Kleinen, den sie außerdem im Garten beschäftigte, auf Einkäufe aus. Er war sanft, furchtsam, schweigsam und zärtlich. Und sie hatte eine innige Freude, eine neue Freude daran, wenn er sie umarmte, ohne sich von ihrer Hässlichkeit abschrecken zu lassen. Er nannte sie Tante und behandelte sie wie seine Mutter.
Abends saßen sie beide am Herd und sie bereitete ihm Leckerbissen. Sie bereitete Glühwein und röstete ein paar Brotscheiben; das war ein köstlicher kleiner Schmaus vor dem Zubettgehen. Oft nahm sie ihn auch auf ihren Schoß und überhäufte ihn mit Liebkosungen, indem sie ihm zärtliche und leidenschaftliche Worte ins Ohr flüsterte. Sie nannte ihn denn wohl: »Mein Herzblatt, mein angebeteter Engel, mein himmlischer Schatz«, und er ließ sich das ruhig gefallen, indem er seinen Kopf an der Schulter der alten Jungfer barg.
Obwohl er jetzt bereits fast fünfzehn Jahre zählte, war er zart und klein geblieben, und sah etwas kränklich aus.
Zuweilen nahm ihn Fräulein Source nach der Stadt mit, um zwei Verwandte zu besuchen, ein paar Kousinen, die in einer der Vorstädte verheiratet waren. Es war dies ihre ganze Familie. Die beiden Frauen grollten ihr im Stillen noch immer, dass sie dieses Kind angenommen hatte, denn sie hofften selbst auf die Erbschaft; doch empfingen sie sie immer mit Wärme, denn sie erwarteten noch immer einen Teil davon, ein Drittel wenigstens, wenn redlich geteilt wurde.
Sie