Zucker im Tank. Andreas Zwengel
Haarkranzes ruhen.
“Die Zeit vergeht.“
“Das kannst du laut sagen“, sagte Felix und breitete die Arme aus. Tibor, der ein ganzes Stück kleiner als sein Freund war, verschwand in dessen Umarmung. Es dauerte lange, bis er sich daraus befreien konnte.
“Warum hast du dich nie gemeldet, Mann? Oder auf meine Briefe geantwortet?“, fragte Felix streng.
“Also ich o äh“, begann Tibor, zögerte und zuckte schließlich grinsend mit den Schultern.
“Schon gut, vergiss es. Hauptsache, du bist wieder da.“
Sie grinsten beide. So sollte es zwischen Freunden sein, dachte Tibor. Wenn man sich nach langer Zeit wieder begegnete, mussten beide das Gefühl haben, den anderen am Vortag zuletzt gesehen zu haben. Keine Erklärungen, keine Vorwürfe und keine Rechtfertigungen. Ein dicker Kloß der Ergriffenheit stieg in seinem Hals auf und zur Ablenkung wies er mit dem Daumen hinter sich: “Hast du eine Ahnung, was hier passiert ist?“
“Ich bin selbst erst gekommen, aber ich sehe gerade jemanden, der es mit Sicherheit weiß“, sagte Felix und hob einen Arm, um zu winken. Der Kopf einer großen und sehr kräftigen Frau Ende vierzig ruckte herum. Sie begann zu lächeln und drängte sich durch die Menge, die ihr widerwillig Platz machte. Sie schob ihre Sonnenbrille in die Stirn und steckte den Notizblock in eine der Taschen ihres Jeansrocks, bevor sie Felix scherzhaft gegen seine Brust boxte. Er legte einen Arm um ihre Schultern und drehte sie in Tibors Richtung.
“Tibor, darf ich dir Thea Richler vorstellen, das letzte lebende Mitglied der freien Presse und seit Wochen die Starreporterin der hiesigen Tageszeitung. Thea, das ist Tibor Hendricks, ein Freund aus besseren Tagen und ehemaliger Ginsberger.“
Sie schüttelten sich die Hände. Sie sah aus wie Kathy Bates. Nicht in der Rolle der psychopathischen Krankenschwester in Misery, sondern als die robuste und engagierte Schnüfflerin in dem Travolta-Film.
“Tibor hat mich gerade gefragt, was hier vor sich geht. Vielleicht kannst du uns eine Antwort darauf geben.“
“Es scheint so, als wäre die Feuerwehr bei ihrem Einsatz auf ein Drogenversteck gestoßen. Die Hälfte der Jungs schwebt noch über den Wolken, während sich alle anderen in die Hose machen.“
Die Antwort verblüffte sogar Felix. “Was sagt Garth dazu?“
“Die Kollegen belagern ihn vor dem Rathaus. Sie haben sich hier ihre Bilder und ein paar Statements von Einheimischen abgeholt und warten nun auf eine offizielle Stellungnahme.“
Felix grinste. “Wo er doch schlechte Presse über den Ort so gut leiden kann.“
“Ich bin selbst gespannt, wie Villeroy es schaffen will, diesen Schlamassel schön zu reden“, sagte die Journalistin.
“Thea ist die ungekrönte Meisterin, wenn es darum geht, Garth unüberlegte Äußerungen zu entlocken“, erklärte Felix seinem Freund. Die Reporterin lächelte geschmeichelt. Sie wollte bescheiden abwinken, als in der Nähe der Absperrung ein kleiner Tumult losbrach.
“Jetzt scheint etwas Bewegung in die Sache zu kommen, ich muss los, wir sehen uns!“, sagte sie und hatte bereits ihren Notizblock gezückt. Sie winkte den beiden zu und warf sich wie ein Schneepflug in die Menge.
“Drogen in Ginsberg?“, fragte Tibor aufrichtig überrascht.
“Dope is in the air“, sang Felix und lachte. “Tja, mein Freund, das Landleben hat seine Unschuld verloren, willkommen zu Hause!“ Er warf sich mit einer Kopfbewegung das schwarze Haar aus der Stirn, ohne seine Hände aus den Taschen nehmen zu müssen. “Du hast dir den perfekten Tag für deine Heimkehr ausgesucht.“
“Timing war schon immer meine Stärke“, sagte Tibor. “Das wird einen ganz schönen Wirbel erzeugen.“
“Darauf kannst du Gift nehmen. Wenn man im Rathaus nachfragt, bekommt man bestimmt die Auskunft, es gäbe keinen Grund zur Besorgnis. Also genau die Antwort, die man erwartet, wenn es einen Grund zur Besorgnis gibt.“
“Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Ginsberg Drogen angebaut werden.“
“Na frag mich mal“, sagte Felix. “Und ich lebe sogar hier. Noch heute Morgen hätte ich über diese Vorstellung gelacht.“
“Dann hast du keine Idee, wer dahinterstecken könnte?“
“Überhaupt keine. Ich kann mir das nur so vorstellen, dass jemand den verlassenen Schuppen genutzt hat, um seine Drogen darin zu verstecken.“
“Jemand von außerhalb?“
“Also mir fällt kein Ginsberger ein, der infrage käme. Nicht dafür.“ Er grinste. “Die könnten es auch gar nicht voreinander geheim halten.“
“Willst du gar nicht wissen, wer hinter den Drogen steckt? Immerhin lebst du ja hier, wie du selbst gesagt hast.“
“Vielleicht hat Garth ein kleines Nebengeschäft am Laufen? Wundern würde mich das nicht.“
Tibor zwinkerte ihm zu. “Sie könnten ihn dafür drankriegen. Würde dich das nicht reizen?“
“Meinen Onkel auf jeden Fall, mich eher weniger. Garth wird bald hier auftauchen, dann möchte ich nicht mehr da sein. Lass uns was unternehmen. Du hast doch Zeit, oder?“
“Für dich immer.“
“Wo steht dein Wagen?“
Tibor wies zur Straße.
Felix hob eine Augenbraue. “Soll ja ein sehr sicheres Auto sein.“
“Ich bin eben ein vorsichtiger Mensch.“
Felix stieg in seinen Touareg und öffnete die Beifahrertür. “Steig ein, ich nehme dich das Stück mit.“
Tibor waren die unzähligen Dellen, Schrammen und Kratzer in der Karosserie des Wagens aufgefallen. Sein Freund schien das Fahrzeug nicht besonders pfleglich zu besitzen. Oder es gab Leute im Ort, die an dem Wagen ihren Unmut über den Besitzer ausließen. Er schwang sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. Sicher vor einer plötzlichen Ladung Löschschaum zündete er sich seine Zigarette an und hielt Felix die Schachtel hin. Der schüttelte den Kopf und ließ den Motor an. Felix hatte längst mit den meisten lieb gewonnenen Trostspendern seiner Jugend gebrochen. Vorsichtig lenkte er seinen Wagen langsam zwischen den nachströmenden Schaulustigen hindurch zur Straße.
Tibor sah sich nach allen Seiten um und war überrascht, wie herausgeputzt Ginsberg wirkte. Er hatte sich vor seiner Heimreise über Ginsberg informiert. Da er zu niemandem Kontakt gehalten hatte, besaß er keine Informationen aus erster Hand. Er hatte den Ort schon vor langer Zeit im Rückspiegel gelassen, und die Gefühle, die die Fahrt durch Ginsberg in seiner Magengegend auslösten, waren mehr als gemischt. Sie weckten Erinnerungen in ihm, die er längst verschüttet geglaubt hatte. Tibor besaß genügend Vorurteile über das Landleben, viele davon gewiss zu Recht, aber er beabsichtigte, sie für sich zu behalten, und wollte den Einheimischen nicht beweisen, dass sie stimmten. Entweder wussten sie es bereits oder wollten es nicht hören. Umso mehr staunte er, wie gut ihm die Örtlichkeiten im Gedächtnis geblieben waren. Der Brunnen, an dem sich seinerzeit die Dorfjugend getroffen hatte. Dort, wo jetzt fünf Parkplätze für die Sparkasse angelegt waren, hatte früher das Haus der Witwe Droste gestanden, die von ihrem Wohnzimmerfenster aus Bier an Jugendliche verkauft hatte. Auf dem Spielplatz hinter der Kirche hatte Tibor sich mit neun Jahren den Arm gebrochen, weil ihn ein Konkurrent in der Gunst von Silke Beck von der Rutsche stieß. Wie viele Abende hatte er am Fluss verbracht und mit anderen Ahnungslosen vermeintlich tiefgründige Gespräche geführt? Und erst die dämlichen Mutproben. Einmal musste Tibor sich die Haare abrasieren, weil er es nicht schaffte, mit seinem Mofa auf einer selbst gebauten Rampe über die Lahn zu springen. Neben dem Verlust der Haare hatte ihn damals am meisten der Anblick des versinkenden Mofas geschmerzt, und er äußerte in den folgenden Jahren mehr als einmal den Wunsch, Felix hätte lieber das Mofa retten sollen, anstatt ihn aus dem Wasser zu ziehen.
“Sollen wir kurz hier halten?“,