Zucker im Tank. Andreas Zwengel
Die Tür des Konferenzraums öffnete sich und Villeroy kam herein. Mit seinem üblichen unverbindlichen Lächeln auf den Lippen nahm er auf einem Stuhl neben der Tür Platz. Garth hätte am liebsten die komplette Gemeindevertretung vor die Tür gesetzt und stattdessen den sicherlich wichtigen Informationen seines Anwalts gelauscht. Er merkte, dass Stephan Bach mit ihm redete, entschuldigte sich und bat ihn, das Gesagte noch einmal zu wiederholen. Bach trug noch seine Angelklamotten und sah überhaupt nicht ein, weshalb er seine schlechte Laune verbergen sollte, immerhin hatte man ihm den Vormittag verdorben. “Ich sagte, jetzt werden mir die Kollegen von der Opposition wieder unter die Nase reiben, dass sich gerade meine Partei in der Vergangenheit für die Freigabe weicher Drogen starkgemacht hat.“
“Stimmt das etwa nicht?“, warf Günther Dörr, der Pächter der Tankstelle, ein.
“Alkoholiker haben ja genug Bezugsquellen“, entgegnete Bach kühl und sah zu, wie Dörrs ohnehin dunkles Gesicht noch röter wurde. Die inoffizielle Kneipe in seiner Tankstelle, wo sich einige Dorfbewohner schon am frühen Morgen zum ersten Bier einfanden, war ein offenes Geheimnis. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dörr sich diese Tatsache von jedem unter die Nase reiben ließ. Er sprang auf und beugte sich über den Tisch. “Was soll das denn heißen? Ich glaube, dem Herrn Lehrer ist die viele Freizeit aufs Gehirn geschlagen.“
“Immerhin habe ich mehr als ein trockenes Brötchen im Kopf.“
“Keine Scherze über Backwaren“, versuchte Bäcker Amsel einen ebensolchen. Aber niemandem war zum Lachen zumute.
Garth bedachte die Streithähne mit einem Blick, der so viel besagte wie: Wird das heute noch was? Die Gemeindevertretung entglitt ihm. Noch vor einem Jahr wäre ein solches Verhalten undenkbar gewesen. Schon allein wegen Viktors Anwesenheit. Das Höchstmaß an Widerspruch stellte damals die freundliche Bitte an Garth dar, seine Position noch einmal zu überdenken. Heute musste er Drohungen und sogar Kompromisse einsetzen, um die Meute ruhig zu halten. Sie lauerten wie hungrige Raubtiere, um sich bei der geringsten Schwäche auf ihn zu stürzen. Mit der flachen Hand schlug er auf den Tisch. “Setz dich hin, Günther, alter Sülzkopf.“
Dörr setzte sich tatsächlich und brummelte dabei Unverständliches.
Berger erhob sich und allen Anwesenden war klar, was jetzt kommen würde. “Als Trainer der Fußballmannschaft darf ich daran erinnern, dass unsere Jungs heute gegen die Deppen aus Weinsee antreten sollen. Aber unsere Besten liegen flach, das wird eine böse Schlappe. Die werden uns vom Platz fegen.“
“Wir haben doch Ersatzspieler“, sagte Krabbe und wurde dafür von Berger mit einem Blick bedacht, der ihn mit gesenktem Blick verstummen ließ.
“Finn Schneider, um nur ein Beispiel zu nennen“, fuhr Berger fort. “Reaktionsschnell und trickreich. Er rennt neunzig Minuten, ohne die Puste zu verlieren, und springt über gegnerische Spieler einfach drüber. Der Junge hat mal einen Lederball quer durch die Turnhalle getreten und damit noch im Flur bei den Umkleidekabinen ein Sicherheitsglas eingedrückt. Und das Beste ist, er hat dabei nur Socken getragen. Für so jemanden gibt es keinen Ersatz.“
“Wie kann man in einer solchen Situation über eine so unwichtige Sache wie Fußball reden“, mischte sich Bach ein.
“Unwichtig? Ich hör wohl schlecht. Nach dem Debakel vom letzten Jahr hängt eine ganze Menge von diesem Spiel ab. Aber warum erzähl ich das eigentlich? Was weißt du schon von Fußball?“
“Wir teilen eben nicht alle Ihre Interessen“, sagte Bach überheblich. Er hatte Berger schon vor Jahren das Du entzogen, wovon dieser sich allerdings nicht beeindrucken ließ. Und daran halten würde er sich schon gar nicht.
“Deine Interessen kennen wir alle zur Genüge, der Fischgeruch lässt einen ja rückwärts die Wände hochgehen.“
“Und wieder eine gewohnt unqualifizierte Bemerkung von Herrn Berger“, erwiderte Bach beleidigt. Er hatte sich in seinem Keller eine kleine Räucherkammer eingerichtet und entwickelte dort neue Fischrezepte. Viele Nachbarn und Kollegen ließen sich von ihm beliefern, der Besitzer des La Cucaracha hatte sogar zwei seiner Rezepte in die Speisekarte aufgenommen. Aber das zählt ja bei diesen Ballproleten nicht, dachte er schmollend.
“Meine Güte, wenn es doch nun mal ein Entscheidungsspiel ist“, spottete Judith Kemmer. Erstens, weil sie auch einmal etwas sagen wollte, und zweitens, weil sie sich über jede Form von Mannschaftssport erhaben fühlte.
“Nichtfußballer: Klappe zu“, zischte Berger und setzte sich wütend wieder hin.
Garth fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und ließ sie in den Schoß sinken. Seine bullige Statur sorgte dafür, dass die Menschen auf Abstand blieben. Er wirkte nicht dick, sondern nur aus der Form geraten. Allerdings überschätzten die meisten Leute die körperliche Bedrohung, die von ihm ausging. Ein Fehler, den er nicht zu korrigieren gedachte. “Ich darf mal zusammenfassen. Wir hocken jetzt schon seit einer halben Stunde in diesem stickigen Raum. Das Einzige, was wir bisher erreicht haben, ist, dass ein paar alte Feindschaften wieder aufgebrochen sind. Aber von einem konstruktiven Beitrag weit und breit keine Spur.“
“DieWir-wissen-nicht-um-welchen-Stoff-es-sich-handelt,-aber-er-ist-auf-jeden-Fall-ungefährlich-Masche wird nicht funktionieren und den Titel als Luftkurort können wir auch vergessen“, scherzte Max Krabbe.
“Deine Beiträge waren auch nicht gerade erhellend, Herr Bürgermeister“, murmelte Dörr.
Garth ignorierte die Bemerkung, doch Villeroys Kopf wandte sich mit einem süffisanten Lächeln dem Tankstellenpächter zu. Der Anwalt besaß ein verweichlichtes Aussehen, aber er konnte einen ansehen wie ein Giftmörder, dessen angebotenen Drink man gerade heruntergekippt hatte. Villeroy war stets bei den Sitzungen präsent, saß schweigend hinter Garth und beobachtete die Gemeindevertreter, die seinem Blick auswichen. Villeroy hatte in seinem Leben wenig getan, das ihm irgendwelche Sympathien zuspielen könnte. Auch die Anwesenden hielten nichts von ihm, aber sie würden sich hüten, eine abfällige Bemerkung zu machen, solange sie fürchten mussten, dass Garth es hörte oder einer der Anwesenden es ihm erzählen konnte. Selbst Garth wusste nicht alles über Villeroy. Der Anwalt wich zwar nur selten von seiner Seite, doch dies führte nicht zum Austausch privater Gedanken. Geld war für Villeroy wichtig, soviel wusste Garth. Er aß gerne gut und lernte Sprachen. Jedes Jahr eine andere. Dieses Jahr war es Finnisch. Warum auch immer.
“Wir müssen endlich zu einer Einigung kommen, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen“, fasste Bach zusammen.
Berger erhob sich theatralisch. “Zunächst einmal müssen wir herausfinden, wer hinter diesem Schlamassel steckt. Das sagte ich bereits.“
Garth seufzte. “Und ich antwortete bereits, es ist Aufgabe der Polizei, den oder die Täter zu fassen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Schadensbegrenzung zu betreiben. Das heißt, wir müssen das Ansehen unseres Dorfes bewahren und dafür sorgen, dass wir in der Presse nicht allzu schlecht dastehen.“ Für ihn war die ganze Veranstaltung ein einziges Déjà-vu, er hatte alles sinngemäß schon dreimal gehört. Und er wusste, was Rolf Berger, der Metzger, als Nächstes sagen würde.
“Wir wissen doch alle, wer hinter dieser Sache steckt“, erklärte Berger so energisch, als wäre es das erste Mal an diesem Tag.
“Ihre Theorie in allen Ehren“, sagte Bach, “aber in den letzten zwölf Monaten wollten Sie wirklich alles, was in dieser Gegend schiefgelaufen ist, diesem Mitbürger anhängen.“
“Dass du ihn verteidigst, wundert mich nun gar nicht. Du gehörst doch zu diesen studierten Liberalen, die jeden Täter in Watte packen wollen.“
“Genau“, bestätigte Dörr, der die Bemerkung über den Alkoholausschank noch nicht vergessen hatte.
“Ich habe ebenfalls studiert“, sagte Krabbe und wurde etwas größer in seinem Sessel.
“Nichts gegen dich, Doc, immerhin bist du wichtig.“
“Und ich wohl nicht“, entrüstete sich Bach.
“Was er meinte, war o “,