Zucker im Tank. Andreas Zwengel
durch das Holz. Villeroy überprüfte den Sitz seiner Krawatte, schaute gelangweilt auf seine Uhr und nach zwei Minuten ging er wieder nach draußen, um dieselbe Position wie zuvor einzunehmen. Ungerührt ließ er eine weitere Batterie Fragen an sich abprallen.
“Deckt das Rathaus die Drogenhändler?“
“Wer ist noch in den Fall verwickelt?“
“Nehmen Sie Drogen?“
Nach und nach wurde allen klar, dass Villeroy auf provozierende Fragen nicht antworten würde, und schließlich kehrte Ruhe ein. Erst als der letzte Reporter verstummte, räusperte sich der Anwalt. “Besten Dank. Nun meine Herrschaften, ich nehme an, dass Sie alle ähnliche Fragen haben, also lassen Sie uns doch auf zivilisierte Art und Weise an die Sache herangehen.“
Garth beobachtete vom Fenster des Konferenzraumes aus, wie sich die Menge um den Anwalt scharte und artig ihre Fragen stellte.
Kapitel Fünf
Das La Cucaracha befand sich in der ehemaligen Dorfmühle. Nur wenige der klobigen Holztische waren besetzt. Auf großen Tafeln wurde Werbung für einen hessischen Abend gemacht: Rippchen mit Handkäse gefüllt und in Apfelwein gekocht. Dazu Sauerkraut, ebenfalls in Apfelwein gekocht, und ein Bembel zum Nachspülen. Felix würgte trocken. Ein Mann kam hinter der Theke hervor und grinste. “Hey, Felix, wie geht es dir?“
“Antonio, ich möchte dir einen alten Freund von mir vorstellen, Tibor Hendricks. Er ist gerade zu Besuch. Tibor, das ist Antonio, es ist sein Laden.“
Sie tauschten einen freundlichen Händedruck und Antonio führte sie zu seinem, wie er sagte, besten Tisch. “Was kann ich euch bringen? Der Koch hat gute Laune, ich glaube, seine Burritos sind heute durchaus genießbar.“
“Wir wagen es.“
Antonio verschwand kurz in der Küche und tauchte kurz darauf mit zwei Bechern Kaffee auf.
“Der geht aufs Haus, für unseren neuen Gast.“
Tibor nahm einen großen Schluck von dem heißen Getränk und seufzte zufrieden. “Hier gefällt s mir.“
“Ja, ein gemütlicher Laden“, stimmte Felix zu. “Antonio war der erste Mensch, der mich nach meiner Scheidung zum Lachen gebracht hat.“
Tibor verschluckte sich an seinem Kaffee und sah hustend zu Felix, der nicht anders konnte, als über den überraschten Gesichtsausdruck zu lachen.
“Du warst verheiratet?“
“Ja, das einzig Abenteuerliche, was man hier unternehmen kann. Und was hast du in der großen weiten Welt getrieben?“
“Ich bin so eine Art Unternehmensberater geworden und werde immer gerufen, wenn irgendwo die Kacke am Dampfen ist. Das Büro ist in Berlin, aber die meiste Zeit bin ich unterwegs.“
“Verheiratet?“
“Nur lockere Beziehungen.“
“Kinder?“
“Nein, erwachsene Frauen.“
“Ich meine o“
“Ich weiß, was du meinst“, sagte Tibor und grinste. Sein letzter Versuch, mit jemandem zusammenzuleben, war am Gesundheitsbewusstsein seiner Partnerin gescheitert. Sie gestand ihm lediglich eine Zigarette nach den Mahlzeiten und die “Zigarette danach“ zu, mit dem Ergebnis, dass er zwanzig Kilo zulegte und sie so viel Sex hatten wie nie zuvor während ihrer Beziehung.
“Mein Job lässt mir leider keine Zeit für eine Familie. Ich reise von Stadt zu Stadt und lebe in Hotels.“
“Klingt abwechslungsreich.“
“Ist aber ziemlich langweilig. Obwohl man recht gut damit verdient. In ein paar Jahren lasse ich mich in den Innendienst versetzen, heirate und baue ein Haus für meine Frau und die Kinder.“ Tibor sagte das in einem Tonfall, als beschreibe er etwas, das auf keinen Fall für ihn infrage komme. “Und was treibst du so?“
“Ich bin selbstständiger Unternehmer, die erste Ich-AG in Ginsberg.“
Tibor wartete einen Moment, ob Felix dies noch genauer ausführte, dann hob er seinen Becher. “Ich glaube, das war vage genug.“
Sie prosteten sich zu und begannen das vergangene Jahrzehnt aufzuarbeiten. Die Bekannten von früher und was in der Zwischenzeit aus ihnen geworden war. Wer machte was, wer war mit wem verheiratet, geschieden, liiert. Wer hatte Affären, Kinder, Probleme. Wer war weggezogen und wohin. Zwei Mädchen aus ihrem Jahrgang waren vor Jahren bei einem Autounfall gestorben. Ein Junge, mit dem sie die Grundschule besucht hatten, war inzwischen ein hohes Tier in der Politik und der Klassenclown der vierten Klasse arbeitete als Dauerlaberer für einen Sender, der vierundzwanzig Stunden am Tag Ratespiele veranstaltete. Tibor kommentierte die Fakten mit Lachen, ungläubigem Kopfschütteln oder schadenfrohem Grinsen. Die wenigen Krankheits-, Schicksals- und Todesfälle wurden mit betroffenem Schweigen und anteiligem Anstoßen quittiert. Felix redete mit einer Offenheit, die er den meisten anderen Menschen nicht in den höchsten Sphären alkoholisierter Vertrauensseligkeit entgegenbringen würde. Tibor konnte er alles erzählen, ohne fürchten zu müssen, Tage später beim Einkaufen oder an der Tankstelle darauf angesprochen zu werden. Er würde es sich anhören, weiterziehen und es vergessen ¡ oder auch nicht. Der springende Punkt war, dass er es für sich behalten würde.
Das Essen kam. Als Vorspeise brachte Antonio Rühreier mit Schnittlauch und Scheiben scharfer Wurst. Er wartete, bis sie gekostet und ausgiebig gelobt hatten, dann verschwand er in der Küche, um sofort wieder voll beladen zu erscheinen. In der einen Hand hielt er eine Kanne Kaffee und auf dem Arm balancierte er eine Platte mit frischen Burritos und eine Schale mit klein geschnittenen Maiskolben, die in einer Chili-Koriander-Tomaten-Soße gewendet waren.
“Versucht Garth dich eigentlich immer noch aus der Mühle zu werfen?“, erkundigte sich Felix.
“Es kommt immer mal wieder ein Schreiben, aber ich glaube, er betreibt das nur noch ziemlich halbherzig.“ Antonio grinste stolz. “Mein Kampf um jeden einzelnen Kunden wurde belohnt.“
Dieser Kampf um Kundschaft nahm oft verstörende Züge an. Die Anschaffung einer Karaoke-Maschine hatte ihn mehr Gäste gekostet als jede andere seiner geschäftsfördernden Ideen zuvor. Viele im Ort versuchten wie er oder Gernhardt auf die Schnelle reich zu werden, doch Garth ließ nur ein bestimmtes Maß an Erfolg zu. Darüber hinaus gab es nur zwei Möglichkeiten: aufhören oder woanders weitermachen. Wer sich nicht daran gehalten hatte, hatte es immer bereut.
Antonio schnaufte kurz und klatschte dann aufmunternd in die Hände. “Aber ihr solltet euch davon nicht den Appetit verderben lassen, ein leerer Magen ändert nichts. Außerdem habe ich als Dessert Früchte mit Nelkensirup vorbereitet und es wäre ein Verbrechen, diese Leckerei verkommen zu lassen.“
Als Felix nach dem Essen zahlen wollte, übernahm Tibor die Rechnung. “Das setzte ich als Spesen ab, kein Problem.“
Sie traten in die Mittagssonne und setzen synchron ihre Sonnenbrillen auf.
“Wie geht es deinem Onkel?“, erkundigte sich Tibor.
“Das kannst du selbst feststellen. Sollen wir vorbeifahren?“
Tibor zögerte einen Moment. Auf der einen Seite interessierte er sich sehr für die Casa Gernhardt, wo er einen beträchtlichen Teil seiner Jugend verbracht hatte. Mit dem Gebäude verband er intensivere Gefühle als mit seinem Elternhaus. Auf der anderen Seite war eine Begegnung mit Onkel Leo selten ein angenehmes Erlebnis. Dazu musste man sich nur Felix anschauen. Der schlaksige Bursche mit der windzerzausten Frisur besaß meist einen ernsten Gesichtsausdruck. Wer Leo kannte, wusste, weshalb sein Neffe so dreinblickte.
“Wenn ich an früher denke“, sagte Tibor, “warst du nie ein sorgloses und fröhliches Kind, sondern immer wachsam oder besorgt.“
“Die Umstände haben mich so gemacht.“
“Die Umstände?“
“Onkel