... dein Freund und Mörder. Mila Roth
bereits alles vorbei war. »Sieh mal, hier in der Schublade habe ich kleine Trostpflaster für tapfere Patientinnen wie dich.« Er öffnete eine Lade neben dem Empfangstresen und deutete hinein. Sie enthielt kleine Plüschtiere, Comic-Hefte und allerlei Krimskrams. »Wenn du möchtest, kannst du dir etwas aussuchen. Oder bist du schon zu alt für eine Plüschmaus?« Er nahm probeweise eines der Kuscheltiere heraus und hielt sie der Kleinen hin. Sie zuckte die Schultern. »Nö«, nuschelte sie, da die Betäubung sie noch am Sprechen hinderte. Doch etwas anderes schien ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Zaghaft deutete sie darauf.
Ihre Mutter beugte sich vor und lachte leise. »Die Schneekugel mit den Pferden?«
Das Mädchen nickte.
»Okay, Miriam, ganz wie du wünschst.« Sander händigte ihr mit einer angedeuteten Verbeugung die Schneekugel aus. »Magst du Pferde gern?«
Miriam nickte wieder und lächelte etwas verzerrt.
»Sie ist verrückt nach Pferden«, erklärte die Mutter. »Seit einem halben Jahr lernt sie auf Gut Waldau reiten, wissen Sie.«
»Aha, so ist das. Dann wünsche ich dir viel Freude an der Schneekugel, Miriam.« Sander richtete sich auf. »Und bis zu deiner nächsten Reitstunde hast du den Besuch hier schon wieder ganz vergessen.« Er zwinkerte ihr zu, dann schüttelte er der Mutter kurz die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Mäurer.«
»Vielen Dank, Herr Dr. Lambrecht, dass Sie uns so schnell drangenommen haben«, antwortete sie.
»Keine Ursache. Für Notfälle habe ich immer Zeit.« Er winkte Miriam noch einmal zu. »Und bitte nicht mehr versuchen, Walnüsse mit den Zähnen zu knacken, ja?«
Amüsiert beobachtete er, wie die Kleine sich von ihrer Mutter hinausführen ließ und dabei fasziniert die Schneekugel betrachtete.
»Herr Dr. Lambrecht, der nächste Termin ist erst in einer Viertelstunde«, vermeldete seine Sprechstundenhilfe Sabine. »Soll ich Ihnen rasch einen Kaffee machen?«
»Das wäre sehr nett von Ihnen.« Er lehnte sich an den Empfangstresen und ließ seine Schultern kreisen. Heute schien der Tag der Notfälle zu sein. Seit dem Vormittag war dies seine erste kurze Pause. Selbst den Mittag hatte er mit zwei Notoperationen verbracht.
»Im Kühlschrank steht auch noch Joghurt, und ich habe heute Morgen Brötchen mitgebracht. Falls Sie Hunger haben …«
»Danke, Sabine, Sie sind ein Schatz.« Das war die brünette Endvierzigerin wirklich, dachte er. Er hatte sie von seinem Vorgänger, der in den Ruhestand gegangen war, übernommen und es nicht eine Sekunde bereut.
Sabine stand auf und ging zu der kleinen Kaffeeküche. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Übrigens piepst es seit ein paar Minuten immer wieder so komisch in Ihrem Büro. Ich habe nachgeschaut, anscheinend ist das irgendeine Meldung auf Ihrem Computer.«
»Ein Piepsen?« Alarmiert hob Sander den Kopf.
»Ja, so ein ganz komischer schriller Ton. Ich dachte schon …«
Was Sabine gedacht hatte, bekam Sander nicht mehr mit, denn er war mit wenigen Schritten in seinem Büro und schloss die Tür hinter sich. Mit fliegenden Fingern tippte er auf der Tastatur seines PCs. Als er die E-Mail sah, die den Warnton hervorgerufen hatte, wurden seine Augen groß, und er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen. Nervös fuhr er sich mit beiden Händen durch sein kurzes blondes Haar, rückte seine schwarz gerahmte Brille zurecht. Dann gab er ein paar Befehle ein und starrte angespannt auf den Bildschirm.
»Nein, nein, nein«, murmelte er. »Was machst du denn da, Janna?« Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß, den er fahrig mit dem Handrücken fortwischte. Dann blickte er sich mit einem Anflug von Panik in seinem Büro um. Was sollte er tun?
Er rief seinen Terminplan für den heutigen Tag auf. Noch vier Patienten waren für den Nachmittag angemeldet. Entschlossen stand er auf, lief zur Tür und streckte den Kopf hinaus. »Sabine? Canceln Sie bitte alle Termine für heute. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.«
»Was?« Mit verblüffter Miene erschien seine Sprechstundenhilfe in der Tür zur Kaffeeküche. »Ist etwas passiert? Sie sind ja ganz blass. Geht es Ihnen nicht gut, Herr Doktor?«
»Nein, keine Sorge.« Er hatte bereits seinen weißen Kittel abgestreift, eilte zurück ins Büro und holte seinen Mantel. »Ich muss ganz dringend etwas erledigen. Bitte schließen Sie die Praxis ab, wenn Sie nach Hause gehen.«
3
Außenbezirk von Rheinbach
Gut Tomberg
Freitag, 16. Dezember, 14:23 Uhr
»Was in aller Welt ist das?«, murmelte Janna vor sich hin, während sie die verschiedenen Ordner auf der DVD anklickte. Immer wieder öffnete sich ein Eingabefeld, das nach einem Passwort verlangte. Die Ordner trugen Namen wie Anlagen, Kredite, Barschaft, Erben und ähnliche mehr. Zuallererst hatte sie ein Symbol angeklickt, das sich OnBanking nannte. Sie erinnerte sich vage, dass sie vor Jahren einmal von diversen Firmen und Banken DVDs mit Online-Banking-Software zugeschickt bekommen hatte, und vermutete, dass dies eine davon sein musste. Das Portal, das sich nach dem Klick auf das Icon geöffnet hatte, nutzte offenbar automatisch ihre Internetverbindung, um auf eine Homepage zu lenken. Auch dort wurde nach einem Passwort gefragt sowie nach einer sechzehnstelligen Identifikationsnummer.
Da Janna nirgends eine Info- oder Impressumsseite entdecken konnte, hatte sie das Online-Portal schnell wieder geschlossen und sich den Ordnern zugewandt. Doch allmählich wurde ihr die Sache zu unheimlich. Was, wenn es sich hier um eine Phishing-DVD handelte, mit der irgendwelche Cyber-Gangster versuchten, an ihre Bankdaten zu gelangen? Oder vielleicht befanden sich auf dem Datenträger auch Viren oder Trojaner, die ihren Computer lahmlegen konnten.
Eilig öffnete sie den DVD-Schacht und entnahm ihm den Datenträger wieder. Misstrauisch beäugte sie ihn von allen Seiten, dann warf sie ihn in den Papierkorb. »Mit mir nicht«, sagte sie grimmig und öffnete ihr Antivirenprogramm. Mit wenigen Klicks veranlasste sie die Software, die Festplatte und alle angeschlossenen externen Geräte auf Virenbefall zu überprüfen. Da dies erfahrungsgemäß eine ganze Weile dauern würde, begab sie sich zurück auf den Dachboden, um sich wieder ihrer Sortierarbeit zu widmen. Dabei versuchte sie sich zu erinnern, wie die DVD in die Sammlung ihrer Sicherheitskopien gelangt sein konnte. Es musste sich um ein Versehen handeln, anders konnte es nicht sein.
Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie Till zweimal an ihr vorbeihuschte, jedes Mal schwer bepackt mit Zeitschriftenbündeln. Er hatte es aufgegeben, über seine Strafarbeit zu maulen, obgleich es mittlerweile heftig regnete und er jedes Bündel über den Hof zum Schuppen schleppen musste. Sie überlegte gerade, ob sie ihm anbieten sollte, eine Pause zu machen, bis der Schauer nachließ, als sie das Geräusch eines Autos vernahm, das die Einfahrt heraufkam und offenbar vor dem Haus anhielt. Eine Wagentür schlug zu.
Augenblicke später polterten Schritte auf der Treppe.
»Janna!«, rief Till leicht außer Atem, weil er so gerannt war. »Komm mal runter. Sander ist da.«
Sie zuckte zusammen. »Sander?« Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, weshalb ihr Exfreund sie besuchte. Sie waren zwar nicht im Streit auseinandergegangen, dennoch fand sie es ungewöhnlich, dass er hier auftauchte. Vor allem, da es mitten am Nachmittag war und er um diese Zeit eigentlich Sprechstunde hatte. Mit einem Anflug von Unbehagen erhob sie sich, strich ihren staubigen Pullover glatt und tastete automatisch nach ihren Haaren, die sie mit einer Spange hochgesteckt hatte. »Ich komme schon«, rief sie ihrem Pflegesohn zu und stieg eilig die Klappleiter hinab. Als sie am Spiegel in dem kleinen Flur des Obergeschosses vorbeikam, blieb sie stehen. In ihrem Gesicht prangte ein Staubfleck, und auch ihr Pullover sah schlimmer aus als gedacht. Zwar verspürte sie keinerlei Ambitionen, sich für Sander aufzuhübschen, aber so wollte sie ihm dann doch nicht gegenübertreten. Deshalb machte sie einen Umweg über ihr Schlafzimmer und riss sich schon auf dem Weg den Pulli über den Kopf. Er flog in hohem Bogen aufs Bett. Eilig zog sie eine dunkelblaue Bluse aus dem Kleiderschrank und schlüpfte hinein. Während sie sie zuknöpfte