Zusammen träumt sich's schöner. Teresa Nagengast
mir mit der anderen Hand über die müden Augen und setze mich schließlich auf. Verwundert blicke ich mich um.
Unser hellbrauner Esstisch, das alte Keyboard, bei dem bereits eine Taste fehlt, und die Bilder, die mich am ersten Schultag und meine Schwester beim Reiten zeigen, sind verschwunden. Stattdessen schaue ich auf einen dunkelbraunen Wohnzimmerschrank mit getönten Glasscheiben, hinter denen geschnitzte Holzfiguren verwahrt sind. Ich sehe einen Vogelkäfig, in dem ein farbenfroher Papagei sitzt und die Gummibärenbande hüpft in einem tollen schwarzen Plasmafernseher, der um einiges größer als unser alter Fernseher ist, weiterhin fröhlich umher. Ich drücke die Augen fest zusammen, zähle bis fünf und öffne sie wieder, doch noch immer schaut mich der Papagei aus seinem Gefängnis fragend an und noch immer ist die vertraute Gegend verschwunden. Mit aller Kraft zwicke ich mir so stark in den Arm, dass ich mir einen Schmerzenslaut unterdrücken muss. Doch es hilft nichts: Unser behagliches Wohnzimmer bleibt verschwunden. Aber das muss doch wieder ein Traum sein? Vielleicht schlafe ich so tief, dass selbst das Zwicken nichts hilft! Achselzuckend beschließe ich erst einmal das Haus zu erkunden. Neben dem Wohnzimmer befindet sich eine geräumige Küche, mit weißen Schränken und grauen Fliesen. Ordentlich ist sämtliches Geschirr abgewaschen und zum Trocknen aufgestellt. Die Obstschale ist gefüllt mit Bananen, Äpfeln und Pfirsichen. Selbst die Geschirrtücher hängen glattgestrichen neben der Tür.
Als die Abspannmusik der Kinderserie ertönt, gehe ich ins Wohnzimmer zurück. Bislang habe ich weder ein Geräusch gehört, noch den Bewohner der Wohnung gesehen.
Doch als ich vor den großen Schrank trete, um mir durch die Glasscheiben die Holzfiguren näher anzuschauen, fühle ich mich plötzlich beobachtet. Bilde ich mir das nur ein oder kann ich aus den Augenwinkeln einen Schatten hinter der Sofaecke erkennen? Langsam drehe ich mich um, bereit einen Vortrag über Hausfriedensbruch zu hören. Doch ich entdecke stattdessen ein kleines Mädchen, nicht älter als 4 oder 5 Jahre, das starr vor Schreck hinter dem Sofa kauert. Hoffentlich fängt sie nicht an zu Weinen.
„Hallo du.“ Vorsichtig gehe ich auf die Knie, um auf Augenhöhe mit dem verschreckten Mädchen zu sein, und versuche möglichst vertrauenswürdig und freundlich zu klingen. „Ich heiße Josephine und wie heißt du?“ Keine Antwort, stattdessen steckt die Kleine ihren Daumen in den Mund. „Ich tue dir nichts“, versuche ich sie zu beruhigen. Das Mädchen schaut mich weiterhin mit unsicherem Blick an. Dann, ganz langsam, lässt sie die Hand sinken und flüstert so leise, dass ich mich näher zu ihr beugen muss, um sie zu verstehen: „Lola.“ „Das ist aber ein schöner Name, Lola“, erwidere ich lächelnd. „Und wo sind deine Eltern?“ Wieder keine Antwort. Da spüre ich auf einmal wie mich jemand an der Schulter rüttelt. Erschrocken fahre ich herum, um mir eine Standpauke der wütenden Mutter anzuhören, doch stattdessen blicke ich in die graublauen Augen meiner eigenen Mutter, die mich wachrüttelt. „Josephine, Telefon für dich“, erklärt sie mir. Ich brauche einige Sekunden, um aus meinem Traum zu erwachen, dann greife ich nach dem Hörer, den meine Mutter mir bereits vor das Gesicht hält. „Ja?“ - Ich erwarte die aufgeregte Stimme von Ilona zu hören - und behalte Recht. Doch anstatt aufgeregt, klingt ihre Stimme vollkommen aufgelöst. Ich kann kein Wort verstehen!
Bestimmt jammert sie wegen dem Typ aus Bamberg, denke ich und verdrehe bereits innerlich die Augen. Als das Weinen jedoch nicht aufhört, wird mir klar, dass etwas weit Schlimmeres passiert sein muss, als nur die Abfuhr eines Jungens - schließlich sind wir keine Teenager mehr.
Nach einiger Zeit höre ich durch ihre Schluchzer hindurch nur einen Satz: „Mein Vater ist tot.“ Sie fängt wieder an zu schluchzen, doch das bekomme ich nicht mehr mit. Um mich herum ist es still geworden und selbst das monotone Brummen des Geschirrspülers, welchen meine Mutter vor einer halben Stunde eingeschaltet hat, ist verstummt. Ich fühle mich wie betäubt. Ich muss träumen, schießt es mir durch den Kopf, so wie ich von dem Mann mit den Rehaugen geträumt habe und von der kleinen Lola, die mich so ängstlich angeschaut hatte. Das konnte unmöglich real sein. Ich versuche mich in den Arm zu zwicken, doch ich kann meinen Arm nicht bewegen. Nicht einmal meine bereits trockenen Augen kann ich schließen. Ich merke auch nicht, wie meine Mutter mir das Telefon aus der Hand nimmt und sich neben mich setzt, die Hand auf meine Schulter legt und mich in die Arme ziehen will. Doch ich merke irgendwann, dass dies kein Traum ist. Allmählich kann ich wieder klarer sehen und zumindest verschwommen Umrisse wahrnehmen. Auch die Stille verschwindet. Ich kann hören, wie draußen ein Auto vorbeifährt und wie eine Katze kläglich miaut. Doch meine Mutter kann ich noch nicht verstehen. Vielleicht will ich sie auch nicht verstehen, weil ihre Worte mir zeigen würden, dass ich nicht träume und dass ich Ilona auch nicht falsch verstanden habe.
Ich spüre, wie sie den Druck ihrer Hand auf meiner Schulter verstärkt, vermutlich um mir Trost zu schenken. Doch für mich fühlt es sich an, als wolle sie mich erdrücken, als würde mir die Luft ausgehen und als würde ich in den Boden gedrückt.
Ich merke, dass ich endlich auch meinen Körper wieder unter Kontrolle habe, zumindest genug, um taumelnd aufzuspringen und aus dem Haus zu rennen. Fast wäre ich über eine Stufe gestolpert und hingefallen, doch ich kann mich gerade noch auffangen. Ich laufe einfach los, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo ich hinlaufe. Ich laufe, solange, bis meine Lunge schmerzt und es in meinen Seiten zu stechen beginnt. Dann erst halte ich an, stütze mich auf meine Knie und atme tief ein. Wie ein Fisch, der auf dem Trockenen schwimmt, ziehe ich die Luft in unregelmäßigen kurzen Stößen ein. Als sich mein Körper von der Anstrengung beruhigt hat, merke ich, dass auch mein Kopf durch die frische Luft klarer geworden ist. Eine Freundin meiner Mutter, die auch in der Siedlung wohnt, blickt mich überrascht an. Es kommt selten vor, dass ich so aufgewühlt durch die Straßen renne - eigentlich kommt es so gut wie nie vor. Ich nicke ihr kurz zu, bevor ich mit schnellem Schritt weiterlaufe. Ich muss zu Ilona! Als hätte mein Unterbewusstsein es gewusst, bemerke ich, dass ich automatisch in die richtige Richtung gerannt bin. Wenn ich meine Augen zusammenkneifen und ganz angestrengt in die Ferne sehen würde, könnte ich sogar schon ihr Haus erkennen. Doch daran verschwende ich heute keinen Gedanken. Ich sammle meine Kraft und mache mich mit schnellen Schritten auf den Weg. Mit jedem Meter, den ich näher komme, verlangsame ich mein Tempo, bis ich schließlich zwei Häuser vor meinem Ziel zum Stehen komme.
Was soll ich ihr sagen? Wie soll ich sie trösten, wo ich selbst völlig neben der Spur stehe? Wie kann ich ihr zeigen, dass ich sie verstehe, wenn ich nicht einmal die Bedeutung ihrer Worte verstehen kann? Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf, doch keine einzige Antwort ist dabei. Ich packe meinen Mut zusammen und klingele. Ein Kloß steckt mir im Hals und ich hoffe, nicht schon beim Anblick meiner Freundin weinen zu müssen. Ganz langsam öffnet sich die Tür. Durch den Spalt kann ich strähnige blonde Haare und ein verquollenes, in Wasser schwimmendes, blaues Auge erkennen. Ich versuche etwas zu sagen, wenigstens ihren Namen zu nennen, doch meine Stimme ist wie weggeblasen. Nicht einmal ein Krächzen bekomme ich heraus.
Ein paar Sekunden stehe ich hilflos vor der halb geöffneten Tür, dann überwinde ich mich, stoße die Tür weiter auf und umarme Ilona. Steif wie ein Stock und gleichzeitig so zerbrechlich wie Glas lässt sie sich von mir festhalten. Ihre Schultern zucken, ich spüre wie einzelne Tränen auf meinen Hals fallen. Ich kann nicht sagen, wie lange wir in dieser Position verharren, es könnten nur Sekunden oder Minuten, aber auch eine ganze Stunde gewesen sein. Wir lösen uns erst voneinander, als Ilona ein Taschentuch aus ihrer Hose holt, um durch die verstopfte Nase wieder Luft zu bekommen. „Wollen wir nach oben gehen?“, frage ich sie zögernd. Sie nickt nur leicht mit dem Kopf, schlurft langsam die Treppenstufen hoch und schmeißt sich dann auf ihr Bett. Dort bleibt sie liegen, wie ein neugeborenes Baby, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Unsicher setze ich mich zu ihr und lege ihr, ähnlich wie meine Mutter zuvor bei mir, die Hand auf die Schulter. Noch immer zucken ihre Schultern leicht, doch die Tränen sind versiegt. Vermutlich hat sie bereits alle vergossen, sodass einfach keine Tränenflüssigkeit mehr übrig ist. So sitzen wir in ihrem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. In ihrem Zimmer, in dem wir bereits die meiste Zeit unserer Teenie-Jahre verbracht hatten und in der es nie still war, herrscht heute angsterfülltes Schweigen. Da wird mir bewusst, dass sich alles in dem Haus geändert hat, dass es hier nie wieder so unbeschwert werden wird, wie es mal war. Nie wieder! Ich merke, wie sich meine Augen mit Wasser füllen, fast schmerzhaft, weil sie durch das leere Starren nahezu ausgetrocknet sind. Ich versuche meine Tränen so gut wie möglich