Zusammen träumt sich's schöner. Teresa Nagengast

Zusammen träumt sich's schöner - Teresa Nagengast


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vernehmbar, ihre Stimme: „Wieso? Wieso hat er das getan?“ Kein Schluchzer ist mehr zu hören, keine Tränen und kein Zucken der Schultern. Nur diese Frage. Die Frage, die mir selbst durch den Kopf schwirrt und auf die wohl niemand eine Antwort haben wird. „Ich weiß es nicht“, hauche ich.

      „Ich mein, ich dachte, wir wären glücklich. Wir waren doch eine Familie.“ „Ich weiß es nicht“, wiederhole ich mich unbeholfen. „Wie soll ich denn jetzt im nächsten Jahr mit dir nach München ziehen und meine Mutter und meinen Bruder alleine lassen?“

      „Ich weiß es nicht.“

      Dann herrscht wieder Stille. Wie kann es möglich sein, dass gestern noch alles in Ordnung war?

      Wie ist es möglich, dass vor ein paar Stunden Ilonas einziges Problem war, ob sie sich vielleicht einen Pony schneiden lassen sollte? „Ich muss nach meiner Mama schauen“, reißt mich Ilona aus den Gedanken. Ich nicke nur, drücke sie noch einmal fest an mich, raune ihr ins Ohr, dass ich für sie da bin und sie mich anrufen soll und gehe zurück auf die Straße.

      Die frische Luft kommt mir im Vergleich zu der erdrückenden Atmosphäre in dem Haus wie eine Befreiung vor. Sie lässt meine noch nassen Tränen an die Wangen trocknen und weht all diese unbeantworteten, schrecklichen Fragen aus meinem Kopf. Ich sehe ein paar Häuser weiter die alte Frau Winter ihre Katzen füttern und die Straße hinunter hängt Frau Riedel gerade noch die Wäsche von der Leine, bevor die Abendfeuchtigkeit kommt. Für sie ist der Tag ein Tag wie jeder andere. Nichts außergewöhnliches, doch für Ilona ist es das Ende ihres bisherigen, bekannten Lebens. Ich weiß nicht wie, aber ich weiß es: Es wird weitergehen. Es muss weitergehen. Und ich werde ihr dabei helfen! Keine Träumereien mehr, nehme ich mir vor und laufe nach Hause. Es ist kühl geworden, die Sonne ist bereits halb untergegangen und ich habe nur eine dünne Jacke an.

      Ich kuschele mich in meine Bettdecke und lasse irgendeine dumme Sendung laufen, auf die ich mich sowieso nicht konzentrieren kann. Es ist bereits lange nach Mitternacht, bis mir die Augen schließlich doch zufallen.

      KAPITEL 2

      Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.

      Elias Canetti

      Ich laufe durch einen Wald. Nein - viel eher durch ein Labyrinth aus Bäumen und Sträuchern. Um mich herum ist es finster. Ich kann gerade einmal zwei bis drei Bäume weit sehen. Ich habe das Gefühl von etwas gejagt zu werden. Eine plötzliche Unruhe und Rastlosigkeit hat sich in mir ausgebreitet. Immer wieder blicke ich mich um, während ich weiter in den Wald hinein hetze. Ich stolpere über Wurzeln und Steine, herunterhängende Äste peitschen mir ins Gesicht, doch ich renne einfach weiter. Mal laufe ich nach links, dann wieder geradeaus oder nach rechts. Vollkommen orientierungslos habe ich mich im Gewirr aus riesigen Bäumen, dornigen Sträuchern und hinterhältigen Wurzeln verirrt und finde keinen Weg aus dem Chaos heraus.

      Allmählich steigt Panik in mir auf, schnürt mir die Luft ab und drängt sich durch meinen Hals. „Hilfe, wo bin ich“, höre ich mich kläglich schreien, als wäre ich eine Vierjährige. Der Klang meiner eigenen Stimme schmerzt in meinen Ohren, doch ich rufe weiter: „Holt mich hier raus. Ich weiß nicht weiter!“ Doch der Wald bleibt still. Keine menschliche Stimme dringt zu mir durch. Einzig das zischende Geräusch des rauschenden Windes und die bedrohlich klingenden Laute von zertretenen Ästen und herunterfallenden Tannenzapfen lassen mich im Sekundentakt zusammenzucken. Von Angst und Schrecken gepackt lasse ich mich am Fuße einer großen Eiche auf die Knie fallen, stütze meinen Kopf in den Händen ab und hoffe, dass der Alptraum ein baldiges Ende findet. Gerade als ich die Augen schließe, um die schreckliche Umgebung um mich herum auszuschalten, nehme ich im Augenwinkeln etwas war. Etwas Bekanntes, etwas Mysteriöses, etwas mit tollen braunen Augen und dunklen Locken.

      Sofort öffne ich erneut meine Lider, um genauer hinzuschauen, doch die bekannte Gestalt ist verschwunden, ebenso wie der unheilvolle Wald mit seinen heimtückischen Fallen. Ich liege zitternd und schweißgebadet in meinem Bett, die Decke bis zu meinem Kinn hochgezogen. Während sich mein Puls langsam beruhigt, denke ich an den kurzen Augenblick, die Millisekunde, als ich wieder in diese Augen blickte. Der Moment war so schnell vorbei, dass ich mich frage, ob ich diese braunen Augen nicht mit zwei Beeren oder Kastanien verwechselt habe. Doch seit wann können Kastanien so mitfühlend schauen? Oder hat mich der Wald so verängstigt, dass ich halluziniert habe.

      Allmählich verschwindet der Wald vor meinen Augen, denn mittlerweile hat mein pochendes Herz sich von dem Albtraum erholt, auch wenn die Kälte, die Angst und die Verzweiflung geblieben sind. Wieso ich sie nicht zurück in die Dunkelheit schicken konnte? Weil diese schlimmen Gefühle echt waren, weil die Dunkelheit sich seit gestern Nachmittag über unser Leben ausgebreitet hat. Wie eine schwarze Wolke hängt sie dort und wehrt jeden Sonnenstrahl ab. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben, die Augen wieder schließen, um vielleicht in einen schöneren Traum zu fliehen. Doch ich weiß, dass das nichts bringt. Also schleppe ich mich die Treppe hinunter. Im Esszimmer ist es mucksmäuschenstill. Meine Schwester ist bereits zum Schulbus verschwunden und meine Mutter ist damit beschäftigt das Geschirr abzuspülen. Ich will ihr gerade sagen, dass ich heute nicht in die Schule gehen werde, auch wenn ich trotz meiner 18 Jahre immer noch eine Entschuldigung meiner Mutter brauchte. Ich erinnere mich noch daran, wie damals eine Petition deswegen geführt wurde, doch schließlich blieb die Regel bestehen, dass bis zum Schulende jeder Schüler eine Abwesenheitsentschuldigung der Eltern mitbringen muss. Meine Mutter kommt mir diesmal jedoch zuvor: „Ich habe bereits bei deinem Lehrer angerufen, dass es dir nicht gut geht.“ Ich gehe zu meiner Mutter, gebe ihr einen Kuss auf die Wange, dann schnappe ich mir meine Jacke und laufe los.

      Diesmal klingele ich etwas entschlossener an der Tür. Ilona lässt mich rein, flüstert mir zu, dass ich leise sein soll, weil ihre Mutter und ihr Bruder endlich eingeschlafen sind. Dann gehen wir in ihr Zimmer.

      Ilona hat sich weder umgezogen, noch gewaschen. Noch immer sind ihre Augen von Mascara verschmiert und ihre Decke liegt zerknautscht auf ihrem Bett.

      „Wie geht es deiner Mutter?“, frage ich vorsichtig. Brüchig antwortet sie mir: „Sie versteht es auch nicht. Sie ist sauer auf ihn, weil er uns allein gelassen hat. Und das bin ich auch! Wie konnte er nur?!“

      Wütend blitzt sie mich an. Der Zorn lässt ihre Augen wie kaltes Eis leuchten. „Und jetzt findet am Samstag die Beerdigung statt. Ich kann das nicht! Jeder wird mich danach in der Schule mitleidig anschauen, mich fragen wies mir geht und extra nett zu mir sein! Wie ich das hasse!“ „Ich bin doch da!“, antworte ich nur. Den restlichen Vormittag schalten wir die Glotze an, die Gedanken aus und lassen uns von Zeichentrickfilmen ablenken. Beinahe fühlt es sich so an, als wären wir wieder zwei unschuldige Sechsjährige, die sogar noch daran glaubten, Pippi Langstrumpf wäre echt. Als ich Hunger bekomme bestelle ich zwei Pizzen und zwinge Ilona eine halbe Pizza zu essen, was ein großer Fortschritt ist, da sie gestern keinen Happen heruntergebracht hat.

      Ich schaffe es sogar fast, sie zum Lächeln zu bringen, als ich ihr erzähle, dass meine Schwester letzte Woche im Bus eingeschlafen ist und an der Endhaltestelle, die zwei Stationen hinter unserem Haus liegt, wieder aufgewacht ist. Sie hatte mich ganz aufgewühlt angerufen, ob ich sie nicht abholen könnte.

      Erst als es zu Dämmern beginnt, verabschiede ich mich mit einer festen Umarmung von Ilona und gehe nach Hause. Ich habe Angst vor der Schule am nächsten Tag und der Beerdigung am Samstag.

      Ich fühle mich kein bisschen, wie eine bereits volljährige junge Frau, die im nächsten Jahr Philosophie studieren möchte, sondern eher wie ein verschrecktes ängstliches Mädchen.

      Mir wird bewusst, dass ich bisher nur auf der Beerdigung meiner Oma war und damals war ich erst neun Jahre alt. Das Einzige was ich davon noch weiß, ist, dass man schwarze Kleidung trägt, doch wie genau so etwas abläuft, wie man sich verhalten muss, das ist mir unklar.

      Vielleicht sollte ich einmal meine Mutter fragen, doch nicht heute. Heute will ich nur noch einschlafen, um nicht an die nächsten Tage denken zu müssen.

      Als ich am nächsten Morgen im Klassenzimmer ankomme und mich auf meinen Platz hocke, kommen einige meiner Freunde vorbei, klopfen mir auf die Schulter und fragen, wie es Ilona geht. Doch ich schüttele nur den


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