Zusammen träumt sich's schöner. Teresa Nagengast
Unterricht über mich ergehen. Meine Mitschüler lassen mich in Ruhe und ich frage mich, wie sie wohl auf Ilona reagieren, wenn sie am Montag wieder in die Schule kommt.
Nach sechs endlos langen Stunden klingelt endlich die Schulglocke. Wochenende - drauf hatte ich mich am Anfang der Woche so sehr gefreut, und jetzt fühle ich in mir nur Angst, vor dem nächsten Tag. Während um mich herum die anderen Schüler lärmend und lachend ihre Sachen zusammenpacken, sich über Wochenendpläne unterhalten oder bereits nach Hause eilen, sitze ich immer noch an meinem Platz und starre vor mich her. Als nur noch die Lehrerin an ihrem Pult steht, schnappe ich mir schnell meine Tasche und flitze nach draußen. Auf ein Vier-Augen-Gespräch mit Frau Winter kann ich wirklich verzichten.
Der restliche Tag vergeht quälend langsam. Es ist, als hätte sich ein Schleier über meine Augen gelegt. Ich esse zwar, doch ich schmecke nichts, ich schaue fern, doch nehme die Sendung nicht wahr. Der einzige Moment, in dem ich klar denken kann, ist, als ich mir eine schwarze Hose und eine schwarze Bluse für den morgigen Tag herauslege.
Dann versinkt alles wieder in ein undurchsichtiges Grau.
Am nächsten Morgen wache ich früh auf, es ist noch stockdunkel. Ich versuche noch einmal einzuschlafen, doch es gelingt mir nicht.
Stattdessen wälze ich mich unruhig hin und her. Als allmählich die ersten Sonnenstrahlen durch die Rollläden scheinen, bin ich heilfroh, endlich aufstehen zu können. Ich öffne die Jalousie. Der Anblick raubt mir den Atem. Seit Tagen hat die Sonne nicht so strahlend geschienen. Nur vereinzelt schweben kleine Schäfchenwolken über dem hellblauen, klaren Horizont. Der Boden ist bereits bedeckt von roten, braunen, grünen und gelben Blättern. Ich frage mich, wie die Bäume immer noch solch tolles Blätterkleid tragen können, wo doch die Hälfte bereits am Boden liegt.
Wie grotesk die Welt doch sein kann: Da stirbt der Vater meiner besten Freundin und gerade jetzt strahlt die Sonne. Pessimisten würden sagen, wie grausam die Erde doch ist; wie sie höhnisch an so einem dunklen Tag mit Sonnenstrahlen lacht. Optimisten würden erwidern, wie toll der Himmel strahlt, um eine freie Seele freudig zu empfangen.
Ich war immer eine Person, die den Tod nicht als Ende ansah, sondern als ein neues Kapitel, doch ich frage mich, wie Ilona nun in die Zukunft blickt. Ob sie ihren Glauben an das Gute in der Welt verloren hat?
Seufzend schlüpfe ich aus meinem Schlafshirt und in die schwarze Tracht und versuche meine Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zu binden, was mir nicht ganz gelingt, da sich meine Haare störrisch herauslocken. Dann gehe ich in die Küche und zwinge mich eine Schüssel Müsli zu essen. Meine Mutter und meine Schwester begleiten mich auf die Beerdigung, immerhin kannten auch sie Ilonas Vater sehr gut. Beide sind bereits angezogen - ebenso schwarz wie ich - und blicken genauso appetitlos auf ihre Schüsseln, die noch immer fast voll sind.
Schweigend geben wir auf und stellen die Schüsseln in die Spüle, dann machen wir uns zu dritt auf den Weg. Der Friedhof und die Kirche liegen nicht besonders weit entfernt. Etwa zehn Minuten Fußmarsch, also kein Grund, das Auto aus der Garage zu fahren. „Der Spaziergang wird uns gut tun“, meint meine Mutter.
Ich frage mich, wie andere Leute, Klassenkameraden und vor allem viele Freundinnen meiner Schwester immer nur in schwarzen Klamotten, mit schwarzen Eyeliner und schwarzen Fingernägeln herumlaufen können. Ich fühle mich unwohl in den tristen schwarzen Klamotten. Noch eine Kurve, dann sind wir da. Die Kirche erstreckt sich vor uns. Majestätisch, wie eine alte Adelsdame, steht sie dort und blickt auf uns hinab. Vor der Kirche haben sich bereits einige Menschen versammelt, ein schwarzer Haufen, der sich von der weißen Fassade der Kirche abhebt.
Meine Beine fühlen sich auf einmal schwammig an und meine Hände beginnen zu zittern.
Die Glocken ertönen. Laut und klar klirren sie in meinen Ohren. Wir atmen tief durch und begeben uns zusammen mit den anderen Bekannten in die Kirche.
Wir ergattern einen Platz ziemlich weit hinten, doch wenn ich mich anstrenge und durch die Reihen hindurch linse, kann ich eine Haarsträhne und den Rücken von Ilona erkennen.
Ich frage mich, ob sie bereits weint oder ob sie versucht stark zu sein und ihre Tränen unterdrückt.
Ich würde gerne bei ihr sein, doch links von ihr sitzt ihre Mutter, in sich versunken und mit krummen Rücken, und rechts von ihr, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder.
Dann beginnt der Gottesdienst. Der Pfarrer liest aus der Bibel vor, erzählt etwas von Hoffnung und vom ewigen Leben. Er erzählt von Ilonas Vater, welch herzensguter Mensch er war, wie sehr er seine Familie geliebt hat und wie gern er mit seinem Mountain-Bike die Gegend erkundet hat.
Nach dem Abschiedslied geht es zum Grab hinaus. Ich sehe, wie Ilonas Mutter und ihr Bruder, sowie Verwandte den braunen Holzsarg begleiten, der zu der letzten Ruhestätte hinausgetragen wird. Ilona läuft mit gesenktem Kopf neben ihrer Mutter auf den Friedhof.
Ich bin froh, dass sie sich gegen einen offenen Sarg entschieden haben, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Anblick ertragen hätte und weiß genau, dass Ilona zusammengebrochen wäre.
Der Sarg wird in die Erde hinabgelassen. Dann ist es an der Zeit der Angehörigen, sich zu verabschieden. Ich sehe, wie Ilonas Mutter nach vorne tritt, eine Hand voll Erde nimmt, hineinschmeißt und dann sagt: „Wir begleiten ihn gemeinsam, um ihm nachzublicken, wenn er vorausgeht in eine neue Welt, in seine ewige Heimat.“ Brüchig und krächzend klingt ihre Stimme. Dann treten Ilona und ihr Bruder Tim an das Grab, nehmen ebenfalls eine Hand voll Erde und werfen sie hinein. Ich bilde mir ein, ganz leise die Worte „Tschüss, Papa“ zu hören, doch es könnte auch das Rauschen des Windes gewesen sein.
Nach und nach gehen auch die anderen Leute an das Grab und werfen eine Hand voll Erde hinein. Wie Roboter kommen sie mir vor, die alle dieselbe Handbewegung machen und denselben Gesichtsausdruck haben. Auch wir laufen mit traurigen, teils verweinten, Gesichtern nach vorne, greifen monoton in die Schale und lassen die Erdbrocken nach unten rieseln. „Leb wohl“, flüstere ich innerlich und denke daran, wie Ilonas Vater uns früher oft mit zum Baden genommen hat.
Nachdem sich auch die letzte Person verabschiedet hat, macht sich die Mehrzahl auf den Weg zum Leichenschmaus. Häppchen, Kuchen, Pizzabrötchen, Muffins: Jeder hat etwas vorbeigebracht, um sein Beileid auszudrücken. Wie bei einem Fest ist ein Buffet aufgebaut. Ich fühle mich, als wäre ich im falschen Film. Es kommt mir verrückt vor, nach solch einer Trauerfeier aufzutischen, als wäre man auf einer Party. Natürlich weiß ich, dass dieses Leidmahl dazu dient, den Verstorbenen in positiven Gedanken zu behalten, sich Anekdoten aus der Jugend zu erzählen und sich im vollen Rahmen zu verabschieden, sowie sein Leid zu teilen. Und dennoch frage ich mich, ob ich wohl in der Lage wäre, solch ein Abschiedsessen zu geben und die Beileidsprüche zu ertragen, während sich um mich herum die ganzen bekannten Leute freudig unterhalten. Ich persönlich habe keinen Appetit und so sehe ich mich im Erdgeschoss um, suche Ilona, um zu sehen wie es ihr geht. Doch von ihr fehlt jede Spur. Ich laufe nach oben. Vielleicht hat sie sich ja in ihrem Zimmer zurückgezogen.
Doch auch das liegt wie ausgestorben da. Um sicher zu gehen, schaue ich sogar unter ihrem Bett und in ihrem Schrank nach, klappere zum Schluss den Dachboden ab, doch meine Freundin bleibt verschollen.
Leichte Panik steigt in mir hoch. Ich zähle langsam von zehn hinab, um einen klaren Kopf zu behalten und denke angestrengt nach. Wo könnte sie sein? Wo würde ich hingehen?
Zum Skaterplatz, wo wir früher öfter waren? In den Wald? Immerhin liebt sie die Natur. Da fällt es mir ein. Natürlich! Zu den verlassenen Eisenbahnschienen. Dort hatten wir uns immer getroffen, wenn einer von uns traurig war.
Ich springe auf, renne die Treppen hinunter und dabei fast einen alten Mann um, dann sprinte ich aus dem Haus. Fünf Minuten ist die Bahnstrecke von der Siedlung entfernt. Naja, Bahnstrecke ist übertrieben, denn immerhin fährt auf den Gleisen schon seit Jahren kein richtiger Zug mehr.
Keuchend erreiche ich die rostigen Gleise. Ich hatte vergessen, wie friedlich dieser Ort ist. Wie ruhig und verlassen die Schienen sich einen Weg durch den Wald bahnen. Vor allem an einem so schönen sonnigen Herbsttag funkelt das rostige Metall wie Kupfer. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, denn immerhin waren wir