Auf den Spuren des Doppeladlers. Helmut Luther
Rückzug allerdings nicht. Mit der sogenannten »Alpenbund-Affäre« 1812/13 stürzte sich der Erzherzog erneut in die große Politik: Wieder ging es um einen geplanten Aufstand der Tiroler gegen Napoleon. Erzherzog Johann unterstützte die Verschwörer, doch ein eingeschleuster Spitzel verriet die Pläne, woraufhin einige Verantwortliche zu langer Festungshaftverurteilt wurden. Erzherzog Johann wurde von seinem Bruder, Kaiser Franz II./I., verboten, Tirol je wieder zu betreten – hinter den Kulissen agierte der allmächtige Staatskanzler Metternich, der im liberalen Erzherzog den gefährlichsten Gegner seines Polizeistaates erblickte. »Das Verbot blieb zwanzig Jahre lang aufrecht – und wurde dann durch einen Gnadenakt des Kaisers aufgehoben. Es ist auch der Grund, warum der Erzherzog in der Steiermark tätig wurde«, erzählt Spiegelfeld. Alles, was er dort geleistet habe, etwa die Gründung der Steiermärkischen Sparkasse und der Grazer Wechselseitigen Versicherung, die Errichtung landwirtschaftlicher Musterbetriebe sowie die Förderung der Industrie, habe Erzherzog Johann ursprünglich in Tirol schaffen wollen. Als er das Land 1833 endlich wieder betreten durfte, begann er auch hier sofort als Erneuerer und Reformer zu wirken. »Mit der Alpenbundaffäre manövrierte sich Erzherzog Johann definitiv ins politische Abseits, wobei die Anschuldigungen, dass er sich etwa als ›Rätischer König‹ ausrufen lassen, also Verrat am Kaiserhaus begehen wollte, völlig absurd waren«, sagt Graf Spiegelfeld. Man merkt, dass ihn dieses Thema auch nach 200 Jahren nicht gleichgültig lässt, schließlich geht es um die Ehre eines Familienmitgliedes. Apropos Ehre: Ein Nachkomme des damaligen Denunzianten besichtige heute regelmäßig mit Reisegruppen Schloss Schenna. »Wenn wir uns begegnen, hält er sich immer, wie in tiefster Scham, die Hände vor das Gesicht. – Ist aber natürlich alles nur Show.« Doch zurück zum Erzherzog. Um ihn und sein Weltbild zu verstehen, müsse einem klar sein, dass seine Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus bis zur Selbstaufgabe ging, sagt Graf Spiegelfeld. Das verdeutliche Johanns Verhalten gegenüber seiner Lebensliebe Anna Plochl: Er habe sie unbedingt heiraten wollen – aber nur mit dem Segen des Kaisers. Dieser stimmte aber zunächst nur einem für beide Seiten unwürdigen Verhältnis zu – Anna Plochl musste offiziell als Hauswirtschafterin am Brandhof in der Steiermark leben. »Der Erzherzog hielt sich strikt an die Vorgaben: keine Intimitäten! Und stieß damit Anna, die dieses Verhalten natürlich nicht verstehen konnte, vor den Kopf. Sie hat wegen dieser Liebe viel mitmachen müssen!«
Der Kies knirscht unter unseren Füßen, als wir den Schlosshof überqueren. In der Mitte breitet eine stattliche Linde ihre Schatten spendenden Äste aus. Ringsum führen Treppen, feucht schimmernde Bogengänge und eisenbeschlagene Türen in das Schlossinnere. Drinnen erstreckt sich ein weiteres Labyrinth aus Treppen, Durchgängen und Sälen, deren kostbares Interieur Neid auf adelige Schlossbesitzer wecken könnte. Da ist etwa der Renaissance-Rittersaal mit einem herrlichen Fayenceofen sowie eine große historische Waffensammlung. An den Wänden hängen Gemälde und Ahnenporträts. Alltagsgegenstände wie das Tafelservice sowie ein massives Ehebett mit Nachttopf stammen aus der Zeit, als Erzherzog Johann hier Schlossherr war. Aufgehalten, gibt Graf Spiegelfeld zu, habe sich der Prinz hier allerdings kaum. »Er war ein Getriebener, ein Workaholic, würde man heute sagen, der von Projekt zu Projekt eilte und eigentlich kein Zuhause hatte.« Warum Schloss Schenna im Gegensatz zu anderen Adelssitzen in Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg nicht leer geräumt wurde, kann sich Graf Spiegelfeld nur mit dem Weitblick des Erzherzogs erklären: Er habe die Schätze, als sich die österreichische Niederlage abzeichnete, rechtzeitig nach Innsbruck geschafft. Als Südtirol dann an Italien fiel, habe in der Region ein großes Plündern eingesetzt. Mit den gestohlenen Schätzen vieler anderer Adelssitze schmückten sich heute Schlösser und Museen in Italien. »Im Castello del Buonconsiglio in Trient etwa kann man die Flügel des Dreikönigsaltars aus dem nahe von hier gelegenen Burgstall bewundern, ein Werk von Bartlmä Dill Riemenschneider, einem Sohn des großen Tilman Riemenschneider. Dass es sich um Raubkunst handelt, sagt einem keiner!«
Erzherzog Johann, hier mit Frau Anna und Sohn Franz, verfügte testamentarisch, in Tiroler Erde bestattet zu werden.
Grandios ist der Blick aus dem Rittersaal über den Meraner Talkessel. Man hat das Gefühl, auf der Kommandobrücke eines Ozeandampfers zu stehen und durch grün wogende Hügel zu manövrieren. Er könne schon verstehen, warum Erzherzog Johann Südtirol geliebt hat, sagt Graf Spiegelfeld: »Es ist ein gesegnetes Land.« Um zu beweisen, wie ernst es dem Erzherzog mit seiner Tirol-Begeisterung war, erzählt mein Gastgeber eine Anekdote: Um 1830, als er noch nicht wissen konnte, dass das kaiserliche Verbot, Tirol je wieder zu betreten, aufgehoben würde, sei der Erzherzog auf der Pasterze, dem größten Gletscher der Ostalpen, am Großglockner herumgeklettert. Eines Nachts sei der hohe Gast nach Kals in Osttirol abgestiegen. »Dabei klaubte er ein bisschen Tiroler Erde zusammen und steckte sie in einen Lederbeutel.« Den Satz aus dem Tagebuch Erzherzog Johanns zitiert Graf Spiegelfeld auswendig: »Damit auf dieser (Erde) einst mein Haupt im Grabe ruhe.« Genau so sei es dann gekommen. Im Juni 1869, zehn Jahre nach seinem Tod, wurde Johanns Leichnam vom Grazer Dom, wo er vorläufig bestattet war, in das Mausoleum nach Schenna überführt. »Seinem Wunsch gemäß mitsamt dem Beutel und der Großglockner-Erde«, erzählt Graf Spiegelfeld.
Treibende Kraft bei der Errichtung des Mausoleums war Anna, die Witwe des Erzherzogs. Das älteste Kind des Postmeisters Jakob Plochl aus Aussee im steirischen Salzkammergut war 15 Jahre alt, als sie den Erzherzog im Sommer 1819 bei einem Jagdausflug zum ersten Mal sah. Der Erzherzog, der schon als junger Mann seinem Tagebuch anvertraute, nur eine Frau heiraten zu wollen, der er »als Mensch zugetan sei, nicht als Fürst«, und das einfache Mädchen, welches nach dem frühen Tod der Mutter die zwölf kleineren Geschwister versorgte: eine verdammt kitschige Geschichte. Ungeachtet aller Widerstände, Intrigen und Rückschläge hielt das Paar an seiner Liebe fest. Dass sich der um 22 Jahre ältere Erzherzog in das Mädchen, das er seine »Nanni« nannte, unsterblich verliebte, leuchtet ein, wenn man ein Porträt betrachtet, das Anna in jungen Jahren zeigt: große, dunkle, mandelförmige Augen, ein zartes, schmales Gesicht, umrahmt von schwarzen, nach hinten gebundenen Haaren. Der Kopf sitzt, leicht geneigt, auf einem Schwanenhals. Eine Mätresse, Konkubine, mit der der Erzherzog Kinder zeugen würde, das wäre für den Kaiserhof kein Problem gewesen – teure Eskapaden wurden großzügig geduldet. Aber Heiratspläne? Ich sehe seinen Bruder, den Kaiser, vor mir, als ihm Johann seine Heiratspläne eröffnete: Der Kaiser erstarrt. An seiner Schläfe unter den früh ergrauten Haaren tritt eine geschwollene Ader hervor. Das asketische Gesicht wirkt noch griesgrämiger, als es der jüngere Bruder ohnehin schon kennt. »Die Hochzeit der Anna mit dem Erzherzog, nach endlosem Warten heimlich um Mitternacht mit zwei oder drei Gästen in einer Kapelle gefeiert, war eine traurige Angelegenheit«, sagt Graf Spiegelfeld. Er zeigt auf eine Fotografie der alten Anna Plochl, die auf Johanns Betreiben zuerst zur Freifrau von Brandhofen und später zur Gräfin von Meran geadelt wurde. Die Witwe des Erzherzogs, umhüllt von einem Berg aus Röcken und Umhängen, sieht müde und abgekämpft aus: eine verhärmte, früh gealterte Frau, der keiner mehr etwas vormachen kann. Man müsse sich vorstellen, welchen Demütigungen Anna Plochl seitens ihrer hochadeligen Verwandtschaft ausgesetzt war, sagt Graf Spiegelfeld. »Sie durfte nie zum Kaiserhof in Wien. Einmal traf man sich zufällig in Bad Aussee – wie werden die Leute da getuschelt haben, als alle der eingeheirateten Bürgerstochter die kalte Schulter zeigten!«
Vom Rittersaal schweift der Blick hinunter zum Kirchhügel. Links erhebt sich die gotische Pfarrkirche mit dem Friedhof, rechts, Richtung Meran, ragt aus rotem Sandstein mit Spitztürmchen und Rosettenfenster die neugotische Grabkapelle für den Erzherzog empor. In verzierten Marmorsarkophagen unter dem Kreuzrippengewölbe der Krypta ruhen außer dem Erzherzog auch seine Frau, die ihn um 26 Jahre überlebte, sowie der gemeinsame Sohn Franz und dessen Gattin. Zur Grabstätte ist es vom Schloss ein Katzensprung, vorbei am zugeschütteten Burggraben und der Pfarrkirche mit dem Dorfplatz. Schenna ist ein touristischer Hauptort Südtirols. Mehr als eine Million Übernachtungen werden hier jährlich gezählt. Während der fünf Gehminuten hinunter zum Mausoleum, inmitten leicht bekleideter, nach Sonnencreme duftender Gästescharen, festigt sich mein Eindruck, dass Schenna kein Urlaubsort für eingefleischte Individualisten ist – so hat sich der die Bergeinsamkeit liebende Erzherzog seine letzte Ruhestätte vermutlich nicht vorgestellt. Von Dienstag bis Freitag kann die Grabkapelle um ein paar Euro besichtigt werden. Karl, 92-jährig, mit Filzhut auf dem Kopf,