Auf den Spuren des Doppeladlers. Helmut Luther
Auch im vergangenen Jahr habe er es so gehalten – dabei wollte er ausloten, wie es mit ihm und Karl weitergehen könne. Karl hatte sich nämlich mitten in der Saison eine Lungenentzündung zugezogen, diese aber nicht auskuriert, weil ihn ja keiner als Wärter in der Grabkapelle ersetzen könnte. »Es sah nicht gut aus um Karl. Er wirkte schmal und gebrechlich. Als ich ihn fragte, ›Karl, packen wir es im nächsten Jahr wieder?‹, sprang er auf und bejahte mit einem Strahlen«, erzählte Graf Spiegelfeld. Ich weiß also einiges, als ich am Eingang der Grabkapelle stehe und versuche, mit Karl ins Gespräch zu kommen. Aber der alte Mann erweist sich als skeptisch. Er werde mir überhaupt nichts sagen, nicht einmal seinen Nachnamen, erklärt er mit einem strengen Blick auf mein Notizbuch. Auf meine weiteren Fragen, obwohl unüberhörbar im hiesigen Dialekt gestellt, antwortet der Alte stur in einem gekünstelten Hochdeutsch. »Noch nicht verdorben, ehrlich und gescheit«, fand Erzherzog Johann die Tiroler und sprach in Bezug auf das Land und seine Menschen von einer Liebe, »welche ich in das Grab mitnehmen werde«. Der treue Karl, der sich von mir nicht wie eine Zitrone auspressen lassen will, wäre ein Mann ganz nach dem Geschmack von Erzherzog Johann.
Die Grabstätte Erzherzog Johanns und seiner Frau Anna Plochl unterhalb von Schloss Schenna
Zum Kauf von Schloss Schenna und anderer Güter in der Steiermark kam es, weil sich die heikle Finanzlage des Erzherzogs dank einer Erbschaft von 200 000 Gulden, umgerechnet rund drei Millionen Euro, schlagartig verbesserte. Johanns Onkel, Herzog Albert von Sachsen-Teschen, hatte sich nach dem Tod seiner Gattin Marie Christine, der Lieblingstochter Maria Theresias, in sein Wiener Palais zurückgezogen, um sich nur mehr seiner großartigen Kunstsammlung zu widmen – der heute weltberühmten Albertina. Es gibt eine weitere familiäre Verbindung, die deutlich macht, in welch engem Zirkel die Hocharistokratie sich bewegte: Marie-Louise, älteste Tochter von Kaiser Franz II./I., die nach dem Wiener Kongress als Herzogin von Parma, Piacenza und Guastalla in der oberitalienischen Poebene eingesetzt worden war, hatte dort unter Anleitung ihres aus Wien mitgebrachten Zeichenlehrers Matthäus Loder zahlreiche Aquarelle geschaffen. Im Museo Glauco Lombardo von Parma, wo einige Originale von der Hand der Herzogin hängen, konnte ich mich von ihrem Talent überzeugen. 1816 wandte sich Marie-Louise mit einer Bitte an ihren Lieblingsonkel Erzherzog Johann: Er möge den geschätzten Mallehrer, der das feuchtheiße Klima der Poebene nicht vertrug und an Malaria erkrankt war, in seine Dienste nehmen. Der Onkel geruhte. Und so begleitete ihn Loder ab 1816 als Kammermaler auf seinen Reisen und Bergtouren in der Steiermark. Er wurde zum Chronisten der Begegnung zwischen dem Erzherzog und Anna Plochl. In romantischen Bildern hat er diese Liebe gefeiert. Vor allem aber hielt Loder in Aquarellen und Zeichnungen die alpine Landschaft fest, die Arbeit der Bergbewohner, ihre Häuser, ihre Trachten und Vergnügungen. Seine Bilder von stäubenden Wasserfällen, wild zerfurchten Gletscherzungen, Ruinen, idyllischen Städten mit Brunnen, die unter Lindenbäumen plätschern, sowie spektakulären Gebirgspässen befinden sich noch heute im Besitz der Grafen von Meran. »Da war auch Glück im Spiel – unter den Nationalsozialisten gab es Pläne, die Sammlung zu beschlagnahmen und als Geschenk der Steiermark dem Führer zu überreichen«, hat mir Graf Spiegelfeld erzählt.
Inzwischen ist es Nachmittag, der Graf unterstützt wieder die Arbeiter bei der Holunderernte. Um Schloss Schenna wirtschaftlich auf eine solide Basis zu stellen, kaufte Erzherzog Johann noch den Thurnerhof mit Äckern und Wiesen dazu. Der Hof liegt etwas oberhalb des Dorfes Richtung Passeiertal. Mit dem Auto geht es weiter bergauf, vorbei an einer efeuumrankten Totenkapelle und am Hotel Erzherzog Johann. Beidseitig der Straße stehen Obstbäume Spalier, teilweise zum Schutz vor Hagel unter Nylonnetzen. Auf selbstfahrenden Hebebühnen, die sich mit einem Hebel steuern lassen, stehen die Pflücker und zupfen rot und gelb leuchtende Äpfel von den Bäumen. Auch zum Thurnerhof gehören heute Obstwiesen. Das jahrhundertealte Gemäuer mit rotweiß bemalten Fensterläden, einer holzvertäfelten Stube und rußigen Selchküche, wo es nach Wurst und Speck riecht, wird von jahrhundertealten Edelkastanien flankiert. Die Methusalem-Bäume breiten ihre mannsdicken Äste wie schützend über dem Dach des Bauernhauses aus. Vor Jahrzehnten, als er mit seiner Frau Schloss Schenna und den Thurnerhof als Verwalter übernahm, habe er von der Landwirtschaft keine Ahnung gehabt, gesteht Graf Spiegelfeld. »Ich wusste nur, dass Äpfel rund sind – dunkel schwante mir, dass ich mich auf ein arbeitsreiches Abenteuer einlasse.« Der Urururgroßvater seiner Gattin habe auf dem Thurnerhof mit damals für Tirol neuen Weinsorten, Riesling und Blauburgunder, experimentiert. »Er führte auch die moderne Anbaumethode auf Drahtrahmen ein.« Graf Spiegelfeld geht heute neue Wege. Außer ihm pflanzt weit und breit keiner Holunder an, um aus den Beeren Schnaps zu brennen. Die mit dunkelvioletten Früchten behangenen Büsche wachsen an einem leicht ansteigenden Hang ober dem Bauernhaus. Mit einer Schere werden die reifen Früchte abgeschnitten und in ein blaues Plastikfass geworfen. Darin vergärt die Maische unter einem Deckel mit Spund. »Dass dies zügig geschieht, ist das Wichtigste, die Früchte müssen ohne Stiel geerntet werden, um unerwünschte Bitterstoffe fernzuhalten«, erklärt der Graf, während er eine Biene von einem Holunderfleck auf seinem Hemd wischt. Den Holunderbrand, der ein wenig nach Gras und Moos duftet und feurig den Rachen hinunterrinnt, verkauft Graf Spiegelfeld in Apothekerfläschchen um 38 Euro das Stück. Ein stolzer Preis. Der Graf winkt jedoch ab. Nein, reich werde er hier auf Schloss Schenna bestimmt nicht. Es gehe um etwas anderes: Das Familienerbe so zu bewirtschaften, dass auch noch die nächste Generation Freude daran findet.
Auf dem Retourweg komme ich noch einmal an Schloss Schenna sowie dem Mausoleum vorbei. Letzteres, erzählte vorhin Graf Spiegelfeld, habe Anna Plochl als viel zu groß empfunden. »Sie meinte, dass darin sogar der Petersdom Platz fände.« Die Gattin des Erzherzogs drückte sich auch sonst ziemlich unverblümt aus. Während ich die von Hotelburgen gesäumte Hauptgasse entlangfahre, halte ich unter den Touristenheeren nach Einheimischen Ausschau, dabei inspiziere ich unauffällig ihre Waden. In einem Brief an ihren Sohn Franz, der als Offizier in Innsbruck stationiert war, schrieb Anna Plochl nämlich: »Bitte verzeih mir Schrift und Feder, beide sind so dick wie die Schenner Waden.«
Die letzten Tage in Freiheit
Moena, Fassatal, Trentino
Richard Löwy konnte im Ersten Weltkrieg als Kommandeur der k. u. k. Bauleitung im Fassatal viel Gutes tun. Das hatten die Bewohner nicht vergessen, als Löwy während des Naziterrors mit seiner Familie als Verfolgter zurückkam. In Moena erinnern heute die Via Riccardo Löwy und eine Dauerausstellung an seine Geschichte.
Seit einigen Stunden bin ich mit Giorgio Jellici unterwegs, als der 84-Jährige, der mit seiner sportlichen Figur und kaum einem grauen Haar auf dem Kopf leicht als Anfang siebzig durchgehen könnte, seine dunkle Sonnenbrille abnimmt, mir tief in die Augen schaut und sagt: »Sie sind zwar eine Nervensäge, können aber auch ziemlich sympathisch sein.« Klar, er hat etwas gut bei mir, außerdem begann unser gemeinsamer Tag eher ungünstig. Jellici reiste aus Deutschland mit dem Zug nach Bozen. »Bis zum Brenner ging alles glatt. Kaum waren wir in Italien, hieß es, wir würden mit knapp einer Stunde Verspätung ankommen.« Im ersten Haus am Platz neben dem Bahnhof, wo er Logis genommen hatte, hieß es um halb drei am Nachmittag, sein Zimmer sei noch nicht fertig. Als wir dann losfahren wollten und ich ihm vorher ein Buch zurückgab, das er geschrieben und mir leihweise per Post zugeschickt hatte, und der alte Herr durch ein paar Stichproben feststellen musste, »Sie haben es nicht gelesen!«, war er kurz davor, den Rückwärtsgang einzulegen. In einer Zeitung hatte ich vom Wiener Juden Richard Löwy erzählt – und nicht erwähnt, dass ohne Giorgio Jellici keiner mehr vom traurigen Schicksal Löwys und seiner Familie wüsste, alle wurden in Auschwitz ermordet. Das kam nicht gut an bei Jellici. Doch nun ist er in Bozen. Ich bat ihn, mir die Originalschauplätze von Löwys Geschichte im Fassatal zu zeigen, er stimmte zu. Mit dem Auto fahren wir ins ladinische Tal hinter dem Karerpass.
Richard Löwy im Fassatal
Giorgio Jellici hat Richard Löwy persönlich gekannt. In seiner Kindheit verbrachte er die Sommer- und Winterferien bei seiner Tante, der Volksschullehrerin Valeria Jellici, in Moena, wo die Löwys Unterschlupf gefunden hatten.