Auf den Spuren des Doppeladlers. Helmut Luther
der gelernte Jurist mit seiner Familie in Erlangen nieder. 36 Jahre arbeitete Jellici, zuletzt als Direktor, für einen weltweit operierenden deutschen Elektrokonzern. »Wobei Direktor nicht viel bedeutet, auch im Vorstadtkino gibt es einen Direktor«, erklärt er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Nach dem Studium in Padua und Ferrara zog er los. »Ich wollte die Welt kennenlernen.« Als 17-Jähriger trampte Giorgio Jellici bis Kopenhagen, schlief in Parks und einmal auf der Polizeistation – weil die Uniformierten so freundlich waren, dem jungen Mann eine Pritsche für die Nacht anzubieten. Nach dem Studium brach Giorgio Jellici erneut auf, gegen den Willen des Vaters, diesmal mit der Absicht, sich im Ausland ein eigenes Leben aufzubauen. 5000 Lire, umgerechnet 2,50 Euro, hatte er in der Tasche und landete zuerst in Dachau in einem Camp der amerikanischen Truppen. »Den Blaumann mit der Aufschrift ›US Army‹ habe ich lange aufbewahrt«, erzählt Jellici.
Inzwischen sind wir in Moena angekommen, dem Hauptort des Fassatales. Die Atmosphäre, die in Bozen – auch zwischenmenschlich – noch recht gewittrig war, hat sich inzwischen aufgehellt. Wir stehen vor einem öffentlichen Garten, die Sonne scheint, Jellici lächelt. Er hat mich auf das Schild an der Straße hingewiesen, über die wir ins Dorf gelangten. Sie heißt Via Riccardo Löwy. Jetzt lenkt Giorgio Jellici meine Schritte zu einer Tafel, die in Wort und Bild erklärt, wie Richard Löwy ins Fassatal kam. Unnötig zu erwähnen, dass sowohl diese Tafel als auch eine Dauerausstellung im Kulturzentrum von Moena – sie war in mehreren Städten zu sehen, etwa ein halbes Jahr in Venedig – ein Werk Giorgio Jellicis sind. »Ich war in Rom, im Kriegsarchiv in Wien, was für ein Durcheinander! Im Staatsarchiv in Prag haben sich die Beamten einen Tag lang vor mir versteckt. Erst als die Chefin erkannte, dass ich nicht aufgeben würde, konnte ich mit der Arbeit beginnen.« Giorgio Jellici zeigt jetzt auf die verblassten Schwarzweißfotos an der Schautafel. Dort sieht man einen jungen Offizier der k. u. k. Armee mit hochgestelltem Kragen und polierten Knöpfen an der Uniformjacke. Dunkler Wuschelkopf, die Oberlippe ziert ein Bartflaum, auf der Nase steckt eine randlose Brille: Es ist Richard Löwy. Kein arroganter Pinsel, der seine Leute schindet und säbelschwingend Befehle brüllt – eher gleicht der feingliedrige Offizier einem Intellektuellen, der seine Zeit am liebsten in einem Wiener Kaffeehaus verbringt. Auf weiteren Abbildungen sieht man Männer mit Arbeitsgeräten und Frauen in Kittelschürzen, daneben hat sich Oberleutnant Löwy hingepflanzt. »Er hat das halbe Dorf gerettet«, sagt Giorgio Jellici. Während des Ersten Weltkrieges als Chef der k. u. k. Bauleitung in Moena stationiert, standen unter dem Oberleutnant viele Frauen aus dem Dorf in Lohn und Brot, den Männern nützte er auf andere Weise. Weil er zu Recht hoffte, dass man ihn hier nicht vergessen habe, kehrte Löwy nach dem »Anschluss«, als in Österreich die Jagd auf die Juden eröffnet wurde, Hilfe suchend ins Fassatal zurück.
Löwy als Gefreiter
Wie viele Juden, die im Habsburgerreich Karriere machten, kam auch Richard Löwy aus dem Osten. Als er am 7. Dezember 1886 im böhmischen Zasmuky/Sasmuk geboren wurde, gab es dort eine blühende jüdische Gemeinde. Richards Vater, Karl Joachim, stammt aus Maschau, einer kleinen Gemeinde nordöstlich von Prag, unweit des berühmten Kurorts Karlsbad. Richards Vorfahren mütterlicherseits hatten sich im ebenfalls böhmischen Kolin, 15 Kilometer östlich von Zasmuky, niedergelassen. Seit dem 15. Jahrhundert waren Juden in Böhmen ansässig. Ende des 19. Jahrhunderts umfasste die Religionsgemeinschaft dort 100 000 Mitglieder. Durch den von Hitler entfachten Vernichtungsfuror leben heute nur noch etwa 6000 Juden in Tschechien.
Die Löwys sind eine wohlhabende Familie. Anfang des 20. Jahrhunderts ziehen sie nach Wien, ihr Quartier liegt im zweiten Stock eines eleganten Mietshauses in der Sechsschimmelgasse. Die Löwys sprechen deutsch und tschechisch, den Wohnzimmerschrank zieren Bücher von Kant, Hegel und Goethe – noch in seinen verzweifelten Bettelbriefen aus dem Gefängnis wird Richard Löwy Schiller zitieren. Der Heranwachsende besucht zuerst die Realschule und dann die Wiener Handelsakademie, wo er 1903 maturiert. Ein Foto zeigt ihn mit Spazierstock, Melone und Vatermörder im Kreis seiner Kameraden. Im Jahr darauf leistet er im Artillerieregiment Nummer 2 der Hauptstadt den Militärdienst als Offiziersanwärter auf eigene Spesen ab. Offiziersanwärter dürfen damals in einem für sie reservierten Bereich der Offiziersmensa essen, im Gegensatz zu den einfachen Soldaten gelten sie als satisfaktionsfähig. 1908 schließt Richard die Ausbildung als Korporal ab. Im Dienstzeugnis wird festgehalten, dass der Aspirant bezüglich seines »Verhaltens an der Front« weiterer »Anreize« bedürfe, mit anderen Worten: Ihm fehlte die Mordlust. Nachdem sich Löwy als 23-Jähriger an der Bauingenieurschule der Technischen Universität Wien inskribiert hat, wird er 1911 als Fortifikationsfähnrich Mitglied der k. u. k. Geniedirektion in Trient. Zwei Jahre später, nach dem Abschluss des Ingenieurstudiums, ernennt man Löwy zum Fortifikationsleutnant der Reserve. Dann bricht der Krieg aus, Richard Löwy steigt zum Kommandanten der Bauleitung von Moena auf. Fieberhaft errichten die Österreicher nun befestigte Stellungen und Schützengräben am nahen Pellegrinopass, wo Österreich an Italien grenzt. Als der südliche Nachbar zum Kriegsgegner wird, erklärt Löwy viele vor der Einberufung stehende Männer als unabkömmlich. Die Frauen können in einer Schneiderei sowie einer Wäscherei, die Löwy einrichtet, etwas Geld verdienen. Löwy ist in Moena so beliebt, dass ihn die Gemeinde 1916 zum Ehrenbürger erklärt. Als der Krieg für Österreich verloren ist, kehrt Richard Löwy nach Wien zurück. 1929 heiratet er die Wienerin Johanna Liebgold, genannt Hansi, eine Pharmazeutin, wie er jüdischen Glaubens. Im März 1938 bricht für Österreichs Juden die Katastrophe herein. Was tun?
Am 16. August 1938 verlassen Richard Löwy und seine Frau die Hauptstadt. Drei Tage später treffen sie in Moena ein. Obwohl das Ehepaar völlig mittellos ist, findet es eine Unterkunft und ein Auskommen im Dorf. Da die Lage im Heimatland nicht besser, sondern immer schlimmer wird, kommen 1939 auch Richards Schwester Martha, ihr Ehemann Hermann Riesenfeld sowie Löwys an Krebs leidende Mutter Hedwig ins Fassatal. Auf die Mildtätigkeit der Dorfbevölkerung angewiesen, versuchen die Flüchtlinge, sich irgendwie nützlich zu machen: Richard kann einige Pläne zeichnen, die Frauen nähen, geben den Dorfkindern Deutschunterricht. Ein Foto zeigt die Löwys mit dem Rechen bei der Heuarbeit. Richard trägt Knickerbocker, Johanna sieht mit Kopftuch wie eine Bäuerin aus. Doch der Frieden trügt: Bereits am 14. Juli 1938 veröffentlicht die italienische Presse landesweit »Erkenntnisse« über die »italienische Rasse«: Die Italiener seien Arier. »Juden gehören nicht zur italienischen Rasse.« Es folgt eine systematische Diskriminierung, Mischehen mit Christen werden den Juden untersagt, sie dürfen nicht mehr studieren, eine ganze Reihe von Berufen wird ihnen verboten. Obwohl auch viele Juden Mitglieder der faschistischen Partei sind und der Antisemitismus in Italien weit weniger als in Deutschland und Österreich grassiert, schwenkt Mussolini auf den judenfeindlichen Kurs der Nazis ein. Am 10. Juni 1940 tritt Italien auf der Seite Deutschlands in den Krieg ein. Wenige Tage später erlässt der italienische Polizeichef den Befehl, alle ausländischen sowie »gefährliche« italienische Juden zu verhaften. Der vermeintlich sichere Zufluchtsort der Löwys erweist sich nun als Falle. Anfang Juli werden Richard und sein Schwager Hermann Riesenfeld zuerst ins Gefängnis nach Trient und dann in verschiedene Konzentrationslager in Mittelitalien verschleppt. Am Monatsende wird Johanna im Lager von Casacalenda in der Region Molise inhaftiert. In Briefen und Postkarten danken die Gefangenen für Pakete mit Brot, Butter und Kleidung, die ihnen Giorgios Tante, Valeria Jellici, schickt. »Ich denke immer an Moena und grüße dich mit unendlicher Dankbarkeit«, schreibt Ingenieur Löwy auf einer Postkarte aus dem Lager Notaresco in der Provinz Teramo. »Es sind Dinge, die nicht von uns abhängen, es ist schwierig, Geduld zu haben und auf ein Wunder zu warten«, beschwichtigt Johanna. Zwischendurch gibt es ein Aufatmen. Anfang 1942 können die Häftlinge nach Moena zurückkehren. Fotos aus jener Zeit zeigen die Verfolgten bei Ausflügen in den Bergen. Eine trügerische Idylle: Denn die Schlinge zieht sich immer enger zusammen. Um nicht aufzufallen, wechseln die Ehepaare Löwy und Riesenfeld – Mutter Hedwig ist inzwischen gestorben und auf dem katholischen Friedhof von Soraga begraben – ständig ihre Wohnung. Dabei behilflich ist ein eingeweihter Carabiniere, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. »Mich freut’s nicht mehr«, kritzelt Richard auf die Rückseite eines Fotos. Die beiden Männer verbringen ganze Tage vor dem Radio. Es sind jedoch keine guten Nachrichten, die sie hören, im Gegenteil.
Unsere Autos haben wir hinter einer Brücke geparkt, die den Avisio überspannt.