Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019). Группа авторов

Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) - Группа авторов


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das Leben noch konsequenter zum unversöhnlichen Widerstand, zur „unbeirrten Negation“4 aufgerufen.

      Man kann darüber streiten, wieweit sich in solchen Konstellationen Graduierungen zwischen naturbedingten und menschheitlichen Negativitätserfahrungen aufrechterhalten, wieweit sich im Erleben konstitutive und kontingente Negativitäten auseinanderhalten lassen. In all dem finden offenkundige Überlagerungen, Übergänge, Verschränkungen statt. Der Schrei der Kreatur angesichts von Zerstörung und Tod, der Schmerz der Krankheit in letzter Verlassenheit kann absolut sein, nicht durch ein radikaleres Leiden relativierbar. Lebensweltlich, existentiell, sozial erfahrene Negativität kann sich mit einer nihilistischen Weltsicht und metaphysischer Verzweiflung verbünden. Das von Adorno beschworene Grauen, die ‚reale Hölle‘ inmitten der Welt ist nicht das schlicht Andere zum Reich des Teufels und der Verdammnis. Das malum morale und das malum physicum öffnen sich zum malum metaphysicum. Die unterschiedlichen Kristallisationspunkte negativer Erfahrung stehen nicht für isolierte Zonen der Erschütterung. Doch setzt die in der Sozialkritik virulente realhistorische Negativität darin einen ganz bestimmten Akzent. Sie begründet einen Negativismus, der auf der fundamentalen Nicht-Versöhntheit der Welt beharrt. Wenn Hegel die Arbeit des Negativen und das Hindurchgehen durch die Zerrissenheit als unabdingbaren Weg im Leben des Geistes beschreibt, so ist es ein Weg, der am Ende aus dem Negativen heraus, zu einer höheren Versöhnung führt. Negative Dialektik aber insistiert auf der Unabschließbarkeit des Umwegs, verschließt sich der spekulativen Überformung des Widerspruchs durch die vereinigende Ganzheit. Sie steht in diesem Sinne exemplarisch für ein nach-metaphysisches Denken, das sich von substantiellen Fundamenten und einem übergreifenden Vernunftoptimismus abgelöst hat und sich seiner Basis in der Abwehr, im Neinsagen zum Nichtseinsollenden versichert. In einer gewissen Weise stellt die realhistorische Negativität eine Radikalisierung der existentiellen Haltlosigkeit und Exponiertheit dar, ist das Leiden der Opfer von Gewalt und Entmenschlichung tiefer, heilloser als die Unentrinnbarkeit von Krankheit und Tod. Auch nach einer anderen Hinsicht kann man sagen, dass das Negative in seiner Radikalität erst in der historischen Perspektive zum Durchbruch kommt, sofern – nach einer Lesart von Paul Ricœur – die anthropologisch-existentielle Besinnung nur die Möglichkeit des Bösen – die Fehlbarkeit –, nicht seine Wirklichkeit freilegt, welche erst in den historisch-kulturellen Zeugnissen der Menschheit, den ‚Symbolen des Bösen‘ ihren Niederschlag findet5. Im Ganzen gewinnt die negativistische Denkform ihre Schärfe in einer zugleich anthropologischen und zeitdiagnostischen Wahrnehmung, welche Phänomene der Entfremdung und Unterdrückung, der Zerrüttung und Zerstörung, des sozialen Zwangs und psychischen Zerfalls, der Selbstverfehlung und des Selbstverlusts in vielfacher Gestalt und Interferenz umgreift.

      4. Geschlossener und offener Negativismus

      Die Frage ist, wieweit sich solche Wahrnehmung des Negativen in sich befestigen, in sich abschließen kann. Bekannt ist der Einwand gegen eine totale Kritik, welche ohne Rekurs auf objektive Maßstäbe und vorgegebene Prinzipien auskommen will. Der Aporie rückhaltloser Negation antwortet dialektisches Denken mittels der Figuren der immanenten Kritik und der bestimmten Negation: Negatives soll nicht abstrakt verworfen, sondern auf das hin kritisiert werden, was sich in ihm selbst, mit Bezug auf eine von ihm selbst prätendierte Norm, ein von ihm selbst beanspruchtes Ziel als defizient erweist. Allerdings setzt dieses Modell ein implizites, unversehrtes Maß des Richtigen im Falschen oder gar ein in der Tiefe tätiges Streben voraus, das unter Bedingungen totaler Verblendung jedoch in beiden Fällen in Frage steht. Im Zustand totaler Entfremdung kann jede Spur des Unversehrten verwischt, im extremen Leiden jede Widerstandskraft verstummt, in der lichtlosen Nacht jeder Vorschein des Anderen erloschen sein. Und dennoch stellt sich die Frage, wieweit der Umgang mit integraler Negativität von deren Anderem absehen kann. In tastenden und zugleich emphatischen Formulierungen erprobt Adorno, dessen Negativitätsdiagnose die abgründigste, unüberbietbarste zu sein scheint, diese Grenzbegehung – vom leisen Zweifel, „ob dies denn alles sein könne“1, bis zum Vorschein des Lichts, das „in den fragmentarischen, zerfallenden, abgespaltenen Phänomenen aufgeht“2, vom Bemühen, „das Nichts so zu denken, dass es zugleich nicht nur Nichts ist“3, bis zur Direktive der Minima Moralia, Philosophie im Angesicht der Verzweiflung als Versuch zu betreiben, „alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ – getragen von der Überzeugung, dass „die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt“4. In solchen Umschreibungen scheint sich die in dezidierter Antithese zu Hegel formulierte ‚negative‘ Dialektik trotz allem mit dessen transzendierendem Hindurchgehen durch das Negative im Innersten zu berühren. Allerdings wird man sich kaum mit dem Schlusssatz begnügen können, dass gegenüber der in alledem an das Denken gestellten Forderung „die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig“5 sei. Festzuhalten hingegen ist die zweifache Distanzierung des konsequenten Negativismus gegenüber der Positivität einer Heils- oder Ganzheitslehre wie der in sich beruhigten Negativität des Nichts. Negativismus behauptet sich als Gegenkraft gegen einen metaphysischen Nihilismus ebenso wie gegen postmoderne Konzepte der Indifferenz, indem er gegen beide das Negative zum Ausgangs- und Angelpunkt des Denkens macht, in welchem er zugleich den Stachel der Negativität, das Nichtseinsollende des Negativen zur Geltung bringt. Negativistisches Denken bewahrt in sich das ungeminderte Spannungsverhältnis zwischen dem Negativen und seinem Anderen, zwischen Kritik und Erschließung, Abwehr und Rettung, wie Negative Anthropologie im Selbst den Widerspruch zwischen Selbsterkenntnis und Verblendung, Verfallen und Selbstsein austrägt.

      Bibliographie

      Adorno Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp

      Adorno Theodor W. (1969): Minima Moralia. Frankfurt/M.: Suhrkamp

      Adorno Theodor W. (1998): Metaphysik. Begriff und Probleme (1965). Frankfurt/M.: Suhrkamp

      Adorno Theodor W. (2001): Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp

      Angehrn Emil (2010): Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen: Mohr Siebeck

      Angehrn Emil (2014): „Dispositive des Negativen. Grundzüge negativistischen Denkens“. In: Angehrn E., Küchenhoff J. (Hrsg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 13–36

      Blankenburg Wolfgang (1992): „Psychiatrie und Philosophie“. In: Kühn R., Petzold H. (Hrsg.), Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychotherapie? Paderborn: Junfermann, 317–314

      Blankenburg Wolfgang (2007): „Die anthropologische und daseinsanalytische Sicht des Wahns“. In: Psychopathologie des Unscheinbaren. Ausgewählte Aufsätze. Berlin: Parodox, 69–95

      Freud Sigmund (1948): „Die Verneinung“. In: Gesammelte Werke, Bd. XIV. Frankfurt/M.: Fischer, 11–15

      Haag Karl Heinz (1983): Der Fortschritt in der Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp

      Halfwassen Jens (2004): Plotin und der Neuplatonismus. München: Beck

      Hegel G.W.F. (1952): Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner

      Heidegger Martin (1963): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer

      Holzhey-Kunz Alice (2001): Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Probleme. Wien: Passagen

      Levinas Emmanuel (1974): Autrement qu’être ou Au-delà de l’essence. Den Haag: Martinus Nijhoff

      Levinas Emmanuel (1991): „La souffrance inutile”. In: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre. Paris: Grasset, 100–112

      Merleau-Ponty Maurice (1945): Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard

      Micali Stefano (2013): „Negative oder differenzielle Anthropologie? Eine Auseinandersetzung mit den anthropologischen Untersuchungen Theunissens aus methodologischer Sicht“. In: Breyer Th. et al. (Hrsg.), Interdisziplinäre


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