Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019). Группа авторов

Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019) - Группа авторов


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nachmetaphysisches Denken kennzeichnen: als ein Denken, das sich weder im Ausgang von ersten Prinzipien noch im Ausgriff auf ein affirmatives Ganzes seiner Grundlagen versichert. Negatives Denken will Wahrheit nicht im direkten Zugriff, sondern ex negativo, aus der Negation des Defizienten und Nichtseinsollenden erfassen. Indessen ist die Anweisung, wie sie Sonnemann formuliert und wie sie sich ähnlich bei anderen Repräsentanten negativistischen Denkens findet, eine vielschichtige, die unterschiedliche Wege öffnet. Das Denken vom Negativen her begegnet uns in verschiedener Gestalt und in variierenden Konstellationen.

      Unterschiedlich ist sowohl die Natur des Gegenstandes wie die Zugangsweise zu ihm: sowohl die Negativität dessen, womit das Denken konfrontiert ist, wie die negative Erschließung und Auseinandersetzung mit ihm. Der negative Status des Gegenstandes oszilliert zwischen dem Fehlenden und dem Negativwertigen, dem ‚abwesenden‘ und dem ‚verleugneten‘ Humanen, zwischen defizitärer Endlichkeit, erlittenem Leid und moralischem Übel, zwischen konstitutiver und kontingenter Negativität. Der negative Modus der Betrachtung wiederum variiert zwischen negativer Erschließung, normativer Verurteilung und kritischer Abwehr, zwischen methodischem und inhaltlichem Negativismus, zwischen Kritik, Widerstand und Transzendierung. Es sind ganz unterschiedliche Weisen theoretischer Durchdringung und praktischer Stellungnahme, in denen das Denken mit dem Negativen befasst ist. Die folgenden Überlegungen suchen ihr Spektrum anhand exemplarischer Positionen aus Kritischer Theorie, Negativer Theologie, Hermeneutik und Negativismus zu erkunden, um die Logik und die Herausforderung negativen Denkens – des Denkens des Negativen und des Denkens aus dem Negativen – zu verdeutlichen.

      1. Formen der Negativität

      1.1 Theoretische und praktische Negativität

      Das Negative begegnet uns in zwei Grundformen: als das Nichtseiende und als das Nichtseinsollende1. Negativität ist als theoretische wie als praktische, als logisch-ontologische wie als lebensweltlich-volitive explizierbar, als Gegenstand eines theoretischen wie praktischen Negierens: des Feststellens, dass etwas nicht ist, bzw. Bestreitens, dass etwas ist, und des Neinsagens zu einer Forderung, einer Norm, einem Wunsch. Das Negative ist einerseits im Raum von Sein und Nicht-Sein, andererseits von Sollen und Nicht-Sollen angesiedelt. Beide Formen der Negativität sind Teil unseres kognitiven und handelnden Wirklichkeitsverhältnisses. Auf der einen Seite vollzieht sich unser Sprachverstehen und Erkennen im unhintergehbaren Spannungsverhältnis zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Bejahen und Verneinen; nach Tugendhat ist die Fähigkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme konstitutive Voraussetzung des Gebrauchs propositionaler Sprache2. Auf der anderen Seite ist unsere Existenz praktischen und emotionalen Widrigkeiten ausgesetzt, Gefahren, die uns bedrohen, Schmerzen und Schädigungen, die wir erleiden. Menschliches Leben vollzieht sich zwischen Glück und Unglück, Gelingen und Scheitern, und Hegel zögert nicht, die „Arbeit des Negativen“3, die beim Negativen verweilt und durch es hindurch geht, als Weg des Lebens zu sich selbst zu beschreiben.

      Nun ist nicht von vornherein klar, wie sich theoretische und praktische Negativität zueinander verhalten, inwiefern sie ineinander verschränkt und Momente einer einheitlichen Problemkonstellation sind – oder unabhängig voneinander unser Selbst- und Weltverhältnis bestimmen. Nach einem naheliegenden Verständnis liegt die theoretische der praktischen Negation zugrunde: Dass ein Sachverhalt als negativer – als Mangel, als Fehler – gegeben ist bzw. erkannt wird, bildet in dieser Sicht die Voraussetzung dafür, dass wir uns praktisch-verneinend – in Kritik, Verurteilung, Zurückweisung – zu ihm verhalten können. An ihnen selbst sind Bestreitung und Verurteilung logisch distinkte Akte und voneinander unabhängig. Allerdings widersprechen profilierte Konzepte dieser Anordnung, sowohl hinsichtlich der Getrenntheit wie der Rangordnung beider Negativitäten. Bestimmend ist für sie die ebenso grundlegende Intuition, dass wir ursprünglich affektiv-erleidend dem Negativen ausgesetzt sind und uns abwehrend zu ihm verhalten, vor dem Bedrohlichen fliehen, gegen das Feindliche Widerstand leisten. Dass das praktisch-aversive Verhalten dem logisch-negierenden zugrunde liege, ist die Leitidee in Freuds klassischer Abhandlung über die Verneinung, die er als „intellektuellen Ersatz der Verdrängung“4 aufweisen will. Ähnlich macht Emmanuel Levinas in der Negativität, die im sinnlosen Leiden als der schlechthinnigen „Verwerfung und Verweigerung von Sinn“ erfahren wird, die „Quelle und den Kern jeder apophantischen Negation“5 aus. Die erlebte Konfrontation mit dem Nichtseinsollenden wird hier zur Tiefenschicht der logisch-prädikativen Praxis des Verneinens. Wie immer das Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Negation bestimmt sei – offenkundig ist, dass beide Weisen des Umgangs mit dem Negativen in unser Verstehen und Verhalten eingehen, dass ihre Dualität einen Wesenskern des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses bildet.

      1.2 Konstitutive und kontingente Negativität

      Komplementär zur theoretischen und praktischen Negation ist eine andere Grunddifferenz im menschlichen Umgang mit Negativität von Belang. Es gibt Negatives, das unabdingbar zur menschlichen Lebensform gehört, und es gibt Negatives, das uns kontingenterweise trifft, sei es, dass es von außen über uns kommt oder von uns selbst hervorgebracht wird.

      Menschliches Dasein hat auf der einen Seite mit konstitutiven Einschränkungen, Mängeln und Leidenserfahrungen zu tun, die in der Endlichkeit der menschlichen Natur gründen. Die Existenzphilosophie hat solche Erfahrungen als Existenziale (Heidegger) oder Grenzsituationen (Jaspers) erkundet und exemplarisch in der Konfrontation mit Leid, Schuld, Schicksal und Tod beschrieben. Es ist ein Motiv, das seit der griechischen Tragödie die Besinnung auf das Sein und Wesen des Menschen leitet und das sowohl dessen äußere Schwäche und Verletzbarkeit, sein Ausgeliefertsein an Krankheit und Tod, wie seine innere Defizienz und Hinfälligkeit, seine Tendenz zur Uneigentlichkeit, sein Scheitern und seine moralische Desintegration betrifft. Es sind Momente des Fehlens und Verfallens, die, auch wenn sie beklagt, verurteilt und bekämpft werden, doch zuletzt unhintergehbar, nie zur Gänze eliminierbar sind und als solche in die menschliche Selbstverständigung integriert werden müssen. Mythen und Religionen führen sie zum Teil auf eine vererbte Schuld, eine Ursünde zurück. Zum Teil mag kontrovers sein, wieweit sie im strengen, zumal ethischen Sinn als Negativa zu gelten haben; wiederholt insistiert Heidegger darauf, dass die Uneigentlichkeit nicht als moralischer Makel, sondern als konstitutive Seinsform des Menschen im Zeichen der ‚zunächst und zumeist‘ gegebenen, ‚alltäglichen‘ Existenz zu verstehen sei. Gleichwohl ist unübersehbar, dass die Verfallensphänomene, die zwar das Dasein ‚entlasten‘, im Widerstreit zu einer anderen Strebenstendenz stehen, die der Natur des Menschen ebenso wesentlich, in gewisser Weise tiefer innewohnt und der gegenüber das Verfallen im Zeichen der ‚Versuchung‘ steht1. Mit Bezug auf das eigene Wollen verkörpern die Verfallsphänomene ein Negatives im Menschen, ein nicht wahrhaft Gewolltes und insofern ein Nichtseinsollendes, wenn auch in anderem Sinne als die Not, das Leiden und die Sterblichkeit, denen das endliche Lebewesen Mensch unausweichlich ausgeliefert ist. Allesamt gehören sie zur conditio humana, die dem Menschen unentrinnbar zugehört.

      Solcher konstitutiver Negativität stehen kontingente Übel gegenüber, unter denen wir leiden und gegen die wir uns wehren, typischerweise menschengemachte Übel, von denen wir annehmen, dass sie im Prinzip vermeidbar, bekämpfbar, idealiter überwindbar sind: technische Katastrophen, Kriege, Gewalt, Unrecht. Die Qualität des Leidens muss keine andere sein als bei natürlichen Gebrechen und Krankheit, doch unterscheidet sich die praktisch-ethische Haltung in grundlegender Weise: Es sind Übel, die wir kritisieren, die wir aus moralischem Protest oder emotionaler Abscheu verurteilen, gegen die wir uns empören und gegebenenfalls Widerstand leisten. Solche Abwehr kann unter bestimmten Bedingungen auch naturbedingte Schädigungen und Ereignisse betreffen – das Schicksal Hiobs, das Erdbeben von Lissabon (Voltaire), das Leiden der Kinder unter der Pest (Camus), den Tod überhaupt (Canetti). Indessen bleibt die Intuition davon unberührt, dass wir die dem menschlichen Bösen entspringenden Katastrophen in anderer, abgründigerer Weise als ein Negatives, zu Verurteilendes, Nichtseinsollendes erfahren, zugleich als eines, das nicht notwendig sein muss, das kontingenterweise unser Leben und unsere Welt affiziert – auch wenn Zweifel an seiner Vermeidbarkeit, seiner Ausrottbarkeit bestehen bleiben.

      2. Methodischer Negativismus

      Die


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