Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams
ein zweites Mal geheiratet, den Lehrer meines Bruders, und natürlich war dies ein aufregendes Ereignis für unsere Familie. Allerdings liegt all das, die Hochzeit, das Vorher und Nachher in meiner Erinnerung ganz im Dunkeln. Nicht aber die folgende zeitgleiche Szene: Meine Eltern besuchten mit meinem Bruder und mir einen Zirkus in einer nahe gelegenen Stadt. Spaßeshalber versteckten sich die drei ganz plötzlich hinter einem Zirkuswagen – und ich war wie verloren. Nie werde ich den Schrecken, diese Mischung aus Ohnmacht und Traurigkeit vergessen, wie ich mutterseelenallein inmitten des Zirkusgetümmels ins Leere schaute, nicht wissend, in welcher Richtung ich suchen sollte. Merkwürdig, viele meinen, dass es stets große, dramatische Ereignisse sind, die das Kind ängstigen. Dabei kann schon die geringste, scheinbar banale Begebenheit das Kind in Angst und Schrecken versetzen – nämlich wenn es sich allein gelassen fühlt. Dann verliert es den Boden unter sich.
Die Hauptangst des Kindes besteht darin verlassen, vergessen, ausgesetzt zu werden, also die (An-)Bindung zu denen, die es liebt, zu verlieren. Alles andere, was wir gemeinhin Kinderängste nennen, sind im Grunde nur unterschiedliche Grade und Erscheinungsweisen dieser Urform der Angst.
Zur menschlichen Grundausstattung gehört die Angst, sie begleitet uns von Beginn an und nicht selten bis zum letzten Atemzug. Angst ist nicht nur ein mentaler, sondern ein durch und durch körperlicher Zustand: Angst lässt uns in die Hose machen, sie lässt unser Herz rasen und reißt uns schweißnass aus dem Schlaf. Angst essen Seele auf, wie ein bekannter Filmtitel sagt.26
Das Grundmuster aller Ängste ist tatsächlich schon in der Geburt angelegt: Angst kommt von Enge, und beim Durchgang durch den Geburtskanal, getrieben von den mütterlichen Wehen, erfährt das Kind erstmals und im wahrsten Sinn des Wortes jenes Gemisch aus Enge und Angst. Gleichzeitig jedoch erlebt es – und dies ist das eigentliche Wunder der Geburt – die Auflösung der Enge, die Befreiung. Wir wissen nicht genau, wie weit die Erinnerungsspuren an dieses frühe Erlebnis heranreichen, aber ich bin überzeugt, dass diese ersten Angsterfahrungen körperlich in den Zellen gespeichert werden und uns lebenslang begleiten.27
Im Idealfall wird das neugeborene Kind sofort liebevoll aufgenommen, das Geburtstrauma durch Zuwendung, Wickeln und Muttermilch aufgefangen. Doch dies ist nicht immer gegeben. Auch heute noch sterben Kinder, weil sie medizinisch schlecht versorgt werden. Und in der Vergangenheit war es gang und gäbe, dass Kinder während der Geburt oder sofort danach starben. Ungewollte Kinder wurden (und werden auch heute noch) lieblos beiseite gelegt, niemand geht mit ihnen eine Bindung ein.
Neugeborene haben möglicherweise eine instinktive Ahnung davon, dass sie Glück haben, wenn sie bei der Geburt freundlich aufgenommen werden, wenn die Mutter sie bedingungslos annimmt. Und es ist ab sofort ihr Lebens- und Leitmotiv, diese Bindung zu erhalten. Die Allgegenwart der Mutter oder der Erwachsenen schlechthin schützt das Kind vor der Angst. Wo sie fehlt, ist das Kind bedroht. Krieg, Flucht, Zerstörung und andere Turbulenzen können die Kinder oft erstaunlich gut ertragen, solange sie die Hand von Vater oder Mutter halten und solange sie selbst gehalten werden. Sie sind zwar erschreckt und verwirrt, aber sie fühlen sich nie verloren. »Ich war während des Angriffs auf Dresden an der Hand meiner Mutter«, sagt eine Frau, »und erstaunlicherweise habe ich gar nicht geweint.« Geht der schützende Kontakt jedoch verloren, bricht Panik aus. Dann trägt nichts mehr, und das Kind wird von Angst überflutet.
Ängste kommen und gehen. Sie kommen angerollt wie Gewitter, sie treten auf in Gestalt von Hexen, Geistern oder Raubtieren, die das Kind angreifen und in Stücke zu zerreißen drohen. Doch verschwinden Ängste auch wieder und lösen sich wie böse Träume auf. Es nützt wenig, das Kind zu mahnen und seine Angst dumm oder peinlich zu nennen. Dann rächt sie sich, erscheint in anderem Gewand und will erst recht die kleine Seele aufessen.
Ja, Angst ist unsere Begleiterin, sie gehört wesensmäßig zu uns. Und sie ergibt manchmal sogar Sinn, dann nämlich, wenn sie uns vor drohenden Gefahren warnt. Vielleicht sollten wir ihr offener begegnen, wie einem Besucher aus einem fremden Land, der uns etwas zu sagen hat.
Archetyp Kind
»Kleiner als klein, doch größer als groß.«
C. G. Jung
Die meisten von uns leben auf irgendeine Weise real mit Kindern. Wir sehen sie, hören sie, unterrichten oder heilen sie und freuen uns an ihnen. Einige haben aber Gründe, keine Kinder um sich haben zu wollen und stattdessen mit Hunden, Katzen oder Vögeln oder ganz allein zu leben. All das ist möglich – doch niemand kann auf die Kinder in seiner Umgebung nicht reagieren.
Daneben aber – weit über dies Reale hinaus – tragen wir alle ein Bild vom Kind in uns, welches oft wenig bewusst und mitunter sogar ganz unbekannt ist. Dieses Bild existiert völlig unabhängig von unseren eigenen individuellen Kindheitserfahrungen – als Urbild, als Archetypus vom Kind.
Der Begriff Archetypus stammt von Carl Gustav Jung und ist ein Grundpfeiler seiner Tiefen-Psychologie.28 Und in die zeitlichräumliche Tiefe führt dieses Denken tatsächlich. Nach Jung tragen wir Menschen nämlich nicht nur die Nachwirkungen unseres eigenen, individuellen Erlebens in uns – und dies ist schon viel –, sondern wir haben darüber hinaus menschheitsgeschichtliche Ablagerungen gespeichert. Wie die Ringe alter Bäume tragen wir die Erinnerungsspuren unendlich vieler vorhergehender Generationen in uns. Die Sprache dieser Erinnerungsspuren zu entschlüsseln fällt uns nicht leicht. Aber die alten Bilder leben in uns und werden wirksam in unseren Träumen, in Ängsten und Visionen und in Momenten besonderer seelischer Wachsamkeit.29
Der Kindarchetypus birgt viele Aspekte. Am aufregendsten erscheint mir das Motiv »kleiner als klein, doch größer als groß«, wie Jung es benennt, jene krasse Polarität und die dazugehörige gefahrvolle und gleichzeitig lustvolle Bewegung zwischen diesen beiden Seinszuständen.
Das neugeborene und gar das ungeborene Kind: Ist es nicht kleiner als klein? Ist es nicht unendlich fragil und bedroht von Anfang an? Und gleicht es nicht einem Wunder, wenn es trotz dieser Bedrohtheit und durch sie hindurch überlebt und seinen Weg findet? Das Wunder ist tatsächlich so groß, dass wir es kaum angemessen in Sprache fassen können. Wie matt sind Worte, wenn es um das Überleben geht, das den meisten von uns als selbstverständlich erscheint.
Deshalb brauchen wir starke Bilder, die über Worte hinausreichen. Deshalb brauchen wir Mythen und Märchen, die das Wunder des Großwerdens unter Gefahren immer wieder neu beschwören und die den Segen betonen, der darin liegt, heil daraus hervorgegangen zu sein. Da wird ein Kind als Däumling geboren, als Dummling oder gar als Tier (»kleiner als klein«), und es wächst doch heran, allen Widrigkeiten zum Trotz wird es doch »größer als groß«: Es wird zum Menschen. Das im Korb ausgesetzte und todgeweihte Moses-Kind wird zum Befreier seines Volkes. Die Söhne und Töchter von Bauersleuten, also kleiner Leute im Sinne der sozialen Hierarchie, bestehen Prüfungen und werden zu Königen und Königinnen erhoben und damit doch »größer als groß«.
Der Archetypus meidet das mittlere Maß. Er liebt die Extreme. Und er schöpft aus dem tiefen Brunnen der menschlichen Erfahrung: Die Bedrohung des Lebens und die darauf folgende Errettung ist wohl die dramatischste existenzielle Erfahrung, die ein Mensch durchleben kann, zumal wenn sie (s)einem Kind widerfährt.
Was den Archetypus des Kindes für uns so faszinierend, gleichwohl so schwer fassbar macht, ist seine Offenheit nach allen Seiten hin. Offen hinsichtlich der zeitlichen Dimension umfasst der Kindarchetypus alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige. Kindheit ist ein fließender Strom, darin kreuzen sich Kinderschicksale millionenfach, und auch zukünftig werden Kinder die Erde bevölkern und ihr menschliches Potential entfalten. Dabei unterstreicht Jung vor allem den Zukunftscharakter des Kindarchetypus, wenn er sagt: »Das Kind ist potentielle Zukunft.«30 Vielleicht ist dies überhaupt der für uns kostbarste Aspekt des Kindarchetypus, das Kind als Repräsentant von Zukunft und damit Hoffnung – und für manche sogar Heil (»Denn euch ist heute der Heiland geboren«).
Offen ist der Kindarchetypus auch hinsichtlich der menschlichen Möglichkeiten, denn diese sind gewissermaßen unendlich. Das neugeborene Kind trägt alle Möglichkeiten