Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams
hier beginnt das Dilemma. Da das Spektrum der Syndrome so extrem breit gestreut ist und sich häufig mit anderen Entwicklungsstörungen oder psychiatrischen Krankheitsbildern kreuzt beziehungsweise überlagert, fallen die Diagnosen für kindlichen Autismus extrem unterschiedlich und bisweilen willkürlich aus. Unterschiedlich sind sowohl die Instrumente der Diagnostik37 als auch die theoretischen Standpunkte der Diagnostizierenden.
Die wissenschaftliche Forschung ist seit der fast zeitgleichen Entdeckung des Autismus als eigenes Krankheitsbild durch den Amerikaner Leo Kanner (1943) und den Österreicher Hans Asperger (1938) bis heute systematisch fortgeschritten und wird auffallend kontrovers diskutiert.38 Verschiedene Disziplinen konkurrieren mehr oder weniger unerbittlich um ein tieferes Verständnis der Krankheit – Genetik und Epigenetik, neurobiologische und neurochemische sowie psychologische Theorieansätze39 –, teilweise unter Einbeziehung, teils unter strikter Ausblendung psychoanalytischer Befunde und Erfahrungen.40 Und seit einigen Jahren registriert man überdies einen »rätselhaften Anstieg«41 der Diagnosestellung Autismus (beispielsweise eine Verdoppelung der Fälle zwischen 2000 und 2010). Rätselhaft ist allerdings die Frage, ob die Krankheit mit ihrer ganzen Schwere wirklich derart um sich gegriffen hat, oder ob nicht die Theorien und Methoden zur Erfassung der Störung derart inflationär missbraucht werden, dass die Statistiken kaum mehr aussagekräftig sind.
Und drittens: Wir können erkennen, dass Krankheit (auch) ein Spiegel der Gesellschaft ist.
Rätselhaft bleibt weiterhin, ob tatsächlich – wie oben vermutet – nur die Diagnosestellung Autismus extrem zugenommen hat oder ob nicht doch die Kinder derzeit wesentlich leichter und häufiger autistisch krank werden. Man muss nicht kulturpessimistisch sein, um unter den Menschen Phänomene und Verhaltensweisen zu entdecken, die man deutlich als autistisch gefärbt erkennen kann: Elternpaare, die aneinander vorbeischauen; stillende Mütter am Notebook; Familien, die nicht zusammen essen; Menschengruppen, in denen wenig oder gar nicht gesprochen wird; Techniksucht; Fühllosigkeit und Mangel an Empathie; Zahlenfetischismus; roboterhafte Bewegungen. Die Liste autistisch gefärbten Verhaltens ließe sich mühelos erweitern. All dies sind Botschaften einer Gesellschaft, die sich, in tausend Gewändern verkleidet und chronisch verabreicht, in der unendlich porösen und plastizierbaren kindlichen Seele niederschlagen und diese nachhaltig prägen.
Eine Gesellschaft produziert nicht nur körperliche Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herzleiden, sondern auch seelische Leiden, Depressionen, Süchte, und womöglich auch die verschiedenen Ausformungen von Autismus. In vielen Verhaltensweisen autistischer Kinder kann man, gleichsam wie in einem Spiegel, Zerrbilder des typischen Habitus unserer (westlichen) Gesellschaft entdecken.
Nein, Krankheiten, auch Kinderkrankheiten, fallen nicht vom Himmel. Die wissenschaftliche Forschung soll durchaus weitergehen. Die eigentliche Forschung steht aber da an, wo wir uns als gesellschaftliche Subjekte immer wieder neu fragen müssen, in welche Welt wir unsere Kinder eigentlich entlassen. Welchen Nährboden bereiten wir ihnen, damit sie gut wachsen können? Welches Immunsystem schenken wir ihnen von Anfang an? Wo liegt unser aller Beitrag – jenseits der Gene –, dass so viele unserer Kinder autistisch erkranken?
B
»Wer A sagt,
muss auch B sagen.
Er kann aber
auch erkennen,
dass A falsch war.«
Bertolt Brecht
Baum
»Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um.«
Erich Kästner
Früher pflanzte man zur Geburt eines Kindes im Garten einen Baum. Am liebsten einen Apfelbaum. Ein schöner Brauch. Jeder weiß, dass Kinder ganz anders wachsen als Bäume, und dennoch tragen wir tief in uns die Überzeugung, dass es eine Analogie zwischen beiden gibt, dass das Kind doch ein bisschen dem Baum gleicht und umgekehrt. Und selbst wenn man diese Überzeugung nicht teilen will, so wird doch jedermann leicht nachvollziehen können, dass es da eine Nähe gibt, eine Anziehung, vielleicht sogar Liebe zwischen Kind und Baum.
Natürlich ist kein Kind so töricht, laut und offen davon zu sprechen. Wie so viele andere Dinge, die dem Kind heilig sind, hält es sein Wissen lieber geheim. Erst als Erwachsener schreibt deshalb der spanische Dichter Federico García Lorca diese Zeilen über die Pappeln seiner Kindheit: »Ich spreche heute zum ersten Male davon. Es hat immer nur mir allein gehört. Es war etwas so Intimes, Privates, dass ich es nicht einmal selbst analysieren wollte. Als Kind lebte ich inmitten der Natur. Wie für alle Kinder hatte auch für mich jedwedes Ding, jedes Möbel, jeder Gegenstand, Baum oder Stein, eine Persönlichkeit. Ich sprach mit ihnen und liebte sie. Im Hof unseres Hauses standen Pappeln. Eines Nachmittags kam es mir so vor, als wenn die Pappeln sängen. Der Wind zwischen den Zweigen erzeugte ein Geräusch aus verschiedenen Tönen – mir klang es wie Musik. Und ich begleitete das Lied der Pappeln oftmals viele Stunden mit meinem Gesang. Einmal hielt ich verblüfft inne. Da sprach jemand meinen Namen, jede Silbe für sich, als buchstabierte er: ›Fe-de-ri-co.‹ Ich sah mich um, aber da war niemand. Und doch zirpte mir jemand weiter meinen Namen ins Ohr.«42
Der Baum besitzt seine reale Gestalt und gleichzeitig gibt er Raum für Projektionen aller Art. Jedes Kind sucht und findet in ihm genau das, was seine Seele braucht. Für Pippi Langstrumpf ist die Baumhöhle der Ort, an dem man die schönsten Schätze findet. Im Märchen vom Fundevogel wird das entführte Kind in einer Baumkrone versteckt, aber auch glücklich wieder entdeckt. Für manche Kinder ist der Baum das Objekt erster naturwissenschaftlicher Neugierde, es sammelt Bucheckern und Blätter, schnitzt sich Stöcke und zählt die Jahresringe. Kein Kind, das sich nicht danach sehnt, in einem Baumhaus zu thronen, und kein Kind, das nicht gierig ist nach den Früchten der Bäume, nach Äpfeln, Birnen und Nüssen.
Wir Erwachsenen vergessen leicht und müssen uns immer wieder zurückerinnern: Als Kind waren wir eins mit der Natur. Alles war in ihr lebendig. Wenn ein Baum gefällt wurde, dann spürten wir die Schmerzen körperlich, und manchmal weinten wir sogar. Heute gibt es nur noch wenige Familien, die zur Geburt des Kindes einen Baum pflanzen, und wenige Familien mit Gärten, auf deren Bäume die Kinder klettern können. Aber Bäume gibt es überall, an jeder Straßenecke, in jedem Park, an fast jedem Bahnhof oder städtischen Platz.
Eine Berliner Kindergruppe kam kürzlich auf die Idee, dass jedes Kind sich einen Patenbaum sucht, seinen Baum, der durchaus auf einem öffentlichen Gelände stehen kann. Jedes Kind darf mit seinem Baum irgendetwas Besonderes anstellen, ein Vogelhaus oder Schmuck an einen Ast hängen, Blumen pflanzen an seiner Wurzel. Manche haben ihren Baum gemalt oder fotografiert oder ihm einen Namen gegeben, kurz: Sie alle haben den Baum zu ihrem persönlichen Freund gemacht. Alles ist ein Spiel der Fantasie, aber diese Kinder sind nicht die ersten, die sich auf ihre Weise mit Bäumen verbinden. Schon in der Bibel finden wir sie, diese innere Nähe zu den Bäumen. Da gibt es die Geschichte von der Heilung des Blinden. Als dieser nach Jesus’ Handauflegen die Augen öffnet, sagt er staunend: »Ich sehe Menschen gehen, als sähe ich Bäume.«43
Bindung
Elliott: »E. T.! Bleib bei mir!
Bitte, bleib mit mir zusammen!«
Steven Spielberg
In Steven Spielbergs Film E. T. sucht ein kleiner Junge Freundschaft, Trost und Vertrauen bei einem Außerirdischen. Hier glaubt er das zu finden, was er in seiner eigenen Familie verzweifelt entbehrt: Bindung. Dieser Film aus dem Jahre 1982, ursprünglich als Kinderfilm konzipiert, hat seine erwachsenen Zuschauer nicht weniger angerührt als die jungen. Das lag sicher nicht nur an Spielbergs Regiekunst, vielmehr spürte jeder Kinobesucher, ob groß oder klein, dass die dramatische Geschichte um