Das Alphabet der Kindheit. Helge-Ulrike Hyams

Das Alphabet der Kindheit - Helge-Ulrike Hyams


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eines Lehrerehepaars. Aufgeregt und aufgeklärt erzählt sie in ihrer Kindergartengruppe, dass sie bald ein Brüderchen haben werde. Sie freut sich über die vielen Nachfragen der anderen Kinder (»Wann kommt er denn? Dauert es noch lange?«) und antwortet eloquent und auffallend präzise: »Nur noch vierzehn Tage, nur noch neun Tage.« Sie zählt die Tage.

      Endlich ist er geboren, der Bruder Anton-Felix, ein kräftiges Baby mit lautem Organ. Die Fragen der Kinder setzen sich fort, aber Charlotte überhört sie, lenkt ab, redet über anderes, schweigt. Nachmittags zu Hause wendet sie sich ab und spielt ihre alten Spiele, so als wäre nichts geschehen, außer – dies fällt den Eltern auf – dass sie viel schweigsamer ist als vorher, vor der Geburt von Anton-Felix.

      Seltsam an dieser Geschichte ist nicht das auffallende Verhalten des Mädchens, viel seltsamer ist die Tatsache, dass die Eltern, als sie davon erzählen, keinerlei Erklärung für diese Wandlung haben. Sie sind völlig blind dafür, dass sich Charlotte in Eifersucht verfangen hat. Ihre eigene Blindheit korrespondiert mit der psychologischen Blindheit ihres Kindes, das seinen neugeborenen Bruder nicht sehen und damit nicht wahrhaben will.

      Dabei ist Eifersucht in uns allen. Mehr oder weniger, je nach Temperament und Leidenschaft. Und wer glaubt, er sei frei von ihr, meint dies vielleicht aus Mangel an Gelegenheit oder er kennt ihre Zeichen nicht. Es muss ja nicht die tödliche Eifersucht der Königin im Märchen Schneewittchen sein. Eifersucht verkleidet sich in so viele und bisweilen bizarre Gewänder, dass wir sie manchmal tatsächlich nicht leicht als solche erkennen.

      Warum eigentlich ist Eifersucht so omnipräsent? Warum macht sie immer wieder Menschen und selbst schon Kinder krank? Wir müssen zurückgehen an die Anfänge des Lebens selbst. Das Kind ist geboren und ihm gehört das Kostbarste der Mutter: ihr Körper, ihre Milch und ihre uneingeschränkte Zuwendung und Liebe. Über Monate und Jahre hinweg darf es auf dem Mutterschoß thronen, und nicht einmal der Vater ist ihm wirklich Konkurrenz.

      Welches Kind versuchte nicht, diesen paradiesischen Zustand so lange wie möglich zu erhalten? Kein Kind will freiwillig teilen, mit niemandem. Wenn die Mutter erneut schwanger ist, erfühlen Kleinkinder oftmals schon in einem sehr frühen Stadium den veränderten Zustand der Mutter und reagieren heftig mit Klammern und Klagen. Mütter können sich dieses Verhalten selten erklären, gehen sie doch davon aus, das Kind könne nichts wissen. Und wie der kleine Körper mit seinen empfindsamen Antennen wissen kann! Nur wir wissen nicht, dass er weiß. Seine Eifersuchtsantennen stehen bereits auf Alarm. Auch Charlottes aufgeregtes Reden über den Bruder, den sie bald bekommen würde, war ein Zeichen für diese Alarmbereitschaft.

      Wenn dann das Geschwisterkind auf die Welt kommt, ist dies für das kleine Kind traumatisch. Immer ist seine Position erschüttert und immer reagiert es eifersüchtig. Die Eifersucht kann die unterschiedlichsten Formen annehmen. Eher selten erscheint sie in reiner Form als krasse Ablehnung und klarer Wunsch nach dem Verschwinden des neuen Babys. Das wäre zu einfach. Das eifersüchtige Kleinkind hat ein empathisches Sensorium dafür, was seine Mutter mag und nicht mag. Häufig versteckt es deshalb seine Eifersucht in übertriebener Zuwendung zum Neugeborenen und droht es in überschäumender Zärtlichkeit zu erdrücken. Andere Kinder gebärden sich wie Charlotte völlig gleichgültig, so als habe die Geburt gar nicht stattgefunden, als könne man sie kraft eigenen Willens ungeschehen machen. Und wieder andere flüchten in die verschiedensten Formen von Regression, sie fangen an zu lallen wie ein Baby oder machen wieder in die Windeln.

      So schmerzhaft diese frühen Formen kindlicher Eifersucht sind, so sind sie doch nicht wirklich vermeidbar. Die Kinderanalytikerin Anna Freud hat kindliche Traumata und deren oft weitreichende Folgen im Erwachsenenalter gründlich beschrieben.62 Natürlich sind Eltern darauf bedacht, ihren Kindern diese zu ersparen. Die Geburt eines Geschwisterchens und die damit verbundene frühe Eifersucht hat aber eine andere Qualität. Sie ist, mit den Worten Anna Freuds, ein »unvermeidbares Trauma«, etwas, das zur Biografie des Kindes notwendig gehört und deshalb nicht mit Tricks oder therapeutischen Strategien umgangen werden sollte. Es gehört zur Menschwerdung des Kindes, dass es lernt, mit diesem Schmerz umzugehen. Verzichten und Teilen, vor allem der Liebe, fällt uns nicht von selbst zu. Es muss errungen werden und kostet seinen Preis. Aber die frühe Kindheit, das Austragen dieser Konflikte mit den Geschwistern, ist ein gutes Übungsfeld und ein guter Zeitpunkt dafür. Wenn nicht jetzt, wenn nicht mit Brüderchen und Schwesterchen, wann dann?

       Einsamkeit

       »O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen …«

      Rainer Maria Rilke

      Damals, im Garten der Nachbarn, gab es einen einsamen Jungen. Ganze Nachmittage lang zog er seine Kreise um die große Birke, leicht hüpfend und immer wieder innehaltend. Manchmal saß er stundenlang unter dem Baum und blinzelte in die Sonne. Draußen, außerhalb der hohen Hecke, spielten und kreischten die Kinder. Nie habe ich ihn in unserer Nachbarkinderschar entdeckt, nicht in der Schule, nicht auf dem Schulweg. Auch dort ging er allein. Später traf ich ihn wieder. Er lehrte jetzt Philosophie, und ich ahnte, dass damals unter der Birke alles begonnen hatte – in der kindlichen Einsamkeit.

      Wenn wir an einsame Kinder denken, dann überfällt uns leicht ein Schrecken, wir spüren Verlust und Mangel und das damit verbundene Leid. Aber dies muss, wie das Beispiel zeigt, nicht immer berechtigt sein. Manche Kinder wählen die Einsamkeit ganz bewusst, sie brauchen sie, um ihre fantasievolle Innenwelt gegen den Zugriff anderer zu schützen. Sie haben genug an sich selbst, an ihren inneren Monologen, an den erfundenen Gestalten, an Farben und Tönen, die sie sich schaffen. Und das Fürsichsein gibt Raum und Zeit, all dies frei auszuleben.

      Ganz anders hingegen die ungewollte oder gar erzwungene Einsamkeit mancher Kinder. Viele Schüler kehren vom Hort oder von der Schule in leere Wohnungen zurück. Die Eltern sind bei der Arbeit oder sonst wie beschäftigt, Geschwister fehlen, und kein Hund springt ihnen entgegen. Diesen Kindern ist die Leere der Wohnungen so selbstverständlich, dass sie sie kaum als fremdartig empfinden. Deshalb revoltieren sie nicht: Sie essen allein, sie tappen allein durch die Wohnung und schalten Geräte ein, die das Gefühl von Einsamkeit nicht aufkommen lassen. Oft schlafen sie abends allein ein. Diese Kinder sind einsam, meist ohne sich dessen bewusst zu sein.

      Einsamkeit ist ja durchaus nicht nur gekoppelt an räumliches Alleinsein. Manchmal bricht dieses Gefühl paradoxerweise gerade dann aus, wenn das Kind sich in einer Gruppe mit vielen anderen befindet. Es ist umgeben von fröhlichen Kindern und spürt plötzlich, dass es nicht, wie anscheinend all die anderen, in der Gruppe aufgeht. Dann fühlt es sich einsam. Peter Handke beobachtet ein solches Kind: »Es läuft, unter den andern Kindern, völlig ziellos im Garten herum, bleibt stehen, macht Anfangsbewegungen eines Spiels, die es sofort ratlos wieder abbricht; dann wieder kleine klägliche Nachahmungen der Lebhaftigkeit der anderen Kinder, aus dem Stand, völlig sinnlose, virtuos sein wollende, dabei nur sehr traurig lächerliche Handlungen im Kreis durch den Garten, Hüpfen, Sich-Anschleichen, Sich-um-sichselber-Drehen, das alles unter all den andern, die ihren Rhythmus haben, in einer völligen Einsamkeit; und als es einmal, ein einziges Mal, im Rhythmus mit den andern ist und ganz stolz zu denen hinschaut, wird es gar nicht bemerkt, und selbst die Hunde, zu denen es sich beugen will, laufen an ihm vorbei, und so geht es, die Hände auf dem Rücken, im Kreis weiter, scheinlebhaft manchmal aus der Traurigkeit aufhüpfend.«63

      Kinder spüren genau, ob sie unter anderen aufgehoben und gewollt sind oder nur ein ungeliebtes Anhängsel. Aus der Kindergruppe ausgeschieden zu sein, gegen den eigenen Wunsch nicht dazuzugehören, macht einsam und traurig, manchmal auch zornig. Das Kind fragt sich, warum es ausgeschlossen ist, und schiebt die Schuld häufig in Form von Selbsthass auf seine eigene Person. Irgendetwas muss an ihm sein, das es nicht liebenswert für andere macht. Solche Gedanken sind der Nährboden dafür, dass sich das Kind in sich zurückzieht und verstärkt den Kontakt zu anderen meidet. Dies kann ernstzunehmende Depressionen verursachen.

      Kehren wir noch einmal zurück zu den positiven, den kreativen Aspekten kindlicher Einsamkeit. Die Fähigkeit, mit uns allein zu sein, ohne an uns zu zweifeln und ohne zu verzweifeln, ist eine Grundfähigkeit des Menschen, die wir auch dem Kind zugestehen und bei ihm unterstützen sollten. Ich erinnere mich


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