Die chinesische Messaging-App WeChat als virtuelle Sprachinsel. Michael Szurawitzki
(26 Niederlassungen und etwa 200 Deutsche) in Shanghai. Damit stand Deutschland an dritter Stelle hinter England (226 Firmen, 1611 Engländer) und Amerika (45 Firmen, 536 Amerikaner), aber vor Frankreich (10 Firmen, 298 Franzosen). In den Folgejahren überstieg die Anzahl der deutschen Niederlassungen sogar die Zahl der amerikanischen. Aus einer Statistik des Jahres 1897 geht hervor, dass Deutschland mit seiner wirtschaftlichen Präsenz von 104 Firmen und 950 Personen an zweiter Stelle hinter Großbritannien (374 Firmen, 4929 Personen) und vor den USA (32 Firmen, 1564 Personen) und Frankreich (29 Firmen, 50 Personen) angesiedelt war. (Schmitt-Englert 2012:37)
Mit der längerfristigen Ansiedlung deutscher Arbeitskräfte an Standorten wie Shanghai, über deren Kommunikation untereinander (auch mit Blick auf die Interaktion mit den Chinesen) wir heute kaum etwas wissen, da zu wenig Zeugnisse erhalten sind, ging zwangsläufig auch mehr Kommunikation zwischen Deutschen und Chinesen einher, auch wenn sich diese oft auf den Bereich des täglichen Bedarfes an Gütern beschränkt haben dürfte (Schmitt-Englert 2012, Kap. 1.2., beschreibt das Shanghaier Pidgin der dort ansässigen Ausländer). Den deutschen imperialistischen Vertretern wird ähnlich wie ihren britischen und französischen Pendants „herrisches Auftreten und de[r] Gebrauch von Machtworten“ (Grimm/Bauer 1974: Sp. 247) attestiert. Hernig (2016) geht in seiner Einschätzung weiter:
Die Truppen des deutschen Kaisers benahmen sich in China so schlecht wie alle anderen ausländischen Militärs. Tausende von chinesischen Aufständischen starben durch deutsche Gewehre bei der Niederschlagung des Boxeraufstands von 1900, der sich gegen die christlichen Missionare und die Ausbeutung Chinas durch die laowai2 richtete, unzählige Zivilisten mussten bluten. In seiner berüchtigten „Hunnenrede“ hatte der deutsche Kaiser Wilhelm II. gegen die chinesischen „Untermenschen“ gewütet: Die sollten es nicht wagen, einen Deutschen auch nur „scheel“ anzusehen. (Hernig 2016: 105; Hervorhebung i.O.)
Dies zeigt weiter eine denkbar große Ungleichheit der kommunikativen Voraussetzungen zwischen Deutschsprachigen und Chinesen im Reich der Mitte bis dahin. Eine zu allem entschlossene Handlungsweise der deutschen Kolonialmacht hatte sich schon nach den Ereignissen manifestiert, die mit der oben erwähnten Ermordung zweier Steyler Missionare ihren Anfang nahmen.
Mühlhahn (2007) beschreibt kompakt die Entwicklungen zur Einrichtung der deutschen Kolonie „Kiautschou“ im Nordosten Chinas mit dem Zentrum Qingdao und ihre Geschichte:
Am 1. November 1897 ermordeten Mitglieder einer antichristlichen Kampfgruppe in der nordchinesischen Provinz Shandong zwei deutsche Missionare. Dies diente der deutschen Regierung als Vorwand, das damalige Dorf Qingdao an der Jiaozhou-Bucht von deutschen Marineeinheiten am 14. November 1897 besetzen zu lassen. Nach längeren Verhandlungen erfolgte am 6. März 1898 die Unterzeichnung eines Vertrages mit China, in dem das Gebiet um die Bucht (von den Deutschen „Gouvernement Kiautschou“ genannt) auf 99 Jahre an Deutschland verpachtet wurde und dem Deutschen Reich Rechte zur Errichtung zweier Eisenbahnlinien und zur Anlage von Bergwerken in Shandong zugesichert wurden. Doch statt 99 Jahre währte die deutsche Kolonialzeit nur 17 Jahre. Kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa stellte Japan im August 1914 dem Deutschen Reich ein Ultimatum, Kiautschou bedingungslos zu räumen. Nach Kämpfen im September und Oktober kapitulierte die Kolonie am 7. November 1914. (Mühlhahn 2007: 43)
In der Rückschau werden die Lebensbedingungen in Kiautschou in einer durch geographische, rechtliche und auch kulturelle Segregation geprägten Ordnung – weiter ohne eine auf gegenseitigem Austausch basierende Kommunikation (hierzu wissen wir ingesamt viel zu wenig Gesichertes, anders als für andere Orte; vgl. Schmitt-Englert 2012) – von Mühlhahn folgendermaßen rekonstruiert:
[D]er chinesischen Bevölkerung war es verboten, innerhalb des europäischen Teiles von Qingdao zu wohnen. Für die chinesische Bevölkerung galt außerdem eine völlig andere Rechtsordnung, die sich hinsichtlich der Strafformen (zum Beispiel Prügelstrafe) überwiegend an dem traditionellen chinesischen Recht orientierte. Für die europäische Bevölkerung galt hingegen das ,moderne‘ Recht des Deutschen Reiches. Im Ergebnis wurden für ein und dasselbe Delikt gegen einen Chinesen ein anderes Strafmaß und andere Strafformen verhängt als gegen einen Deutschen. Neben dem Aufbau einer umfassenden Verwaltung kam es in Qingdao also zur konsequenten bürokratischen Umsetzung und Normalisierung einer Rassenideologie. Dem Zweck der auf dem Verordnungswege durchgesetzten und kontrollierten Absonderung dienten vielfältige, sorgsam durchdachte Entscheidungen und Aktionen der Verwaltung, wie die genannte strikte Trennung der chinesischen und deutschen Wohngebiete und die unterschiedlichen Gesetze für Deutsche und Chinesen. Die Rassentrennung wurde erst in den letzten Jahren der Kolonie ab 1910 gelockert. Die Verwaltung kam damit wachsender Kritik der chinesischen Bevölkerung an der Rassentrennung nach. (Mühlhahn 2007: 44-45)
Kulturell setzten die Deutschen laut Mühlhahn darauf, die chinesische Kultur über die Vermittlung deutscher Kultur an die Chinesen zu verändern. In einer gemeinsamen Anstrengung von Behörden, Kirchen und privaten Trägern (Mühlhahn 2007: 45) sollte ab 1905 Kiautschou nicht mehr bloß ein Außenposten des deutschen Handels sein, sondern vielmehr eine Art deutsches Kulturzentrum in China: „Die vom Deutschen Reich in Kiautschou systematische betriebene Kulturpolitik sollte neben Diplomatie und Außenwirtschaftspolitik die dritte Säule in den Beziehungen zu China werden.“ (Mühlhahn 2007: 45) Insgesamt stießen diese kommunikativen Bestrebungen bei der chinesischen Bevölkerung während der Kolonialzeit auf eine ambivalente Reaktion: Es gab einerseits Positionen, die die Haltung der Kolonialherren rigoros ablehnten, und andererseits nutzten Menschen die sich ihnen bietenden Chancen, ihre eigene Lebenssituation durch die Interaktion mit den Deutschen zu verbessern. Hierbei sind sowohl Menschen vom Lande zu erwähnen, die sich angesichts ihrer Armut neue Möglichkeiten versprachen, wie auch einige Kaufleute, die von der Situation profitierten (vgl. Mühlhahn 2007: 46).
Grimm/Bauer (1974: Sp. 247) halten fest, dass die Deutschen als Kolonialherren bei den Chinesen insgesamt als – wenn man dies so sagen kann – beliebter gegolten hatten als die größeren Kolonialnationen: „Deutsche galten in China in der Regel als umgängliche Leute. Sie waren weniger typische Kolonialherren als etwa Engländer und Franzosen. […] Deutsche wurden von den Chinesen oft weit freundlicher behandelt als von ihren ehemaligen europäischen Partnern […]“. Insgesamt war aber, wie oben bereits vorweggenommen, die Kolonialzeit auch für das Deutsche Reich nicht von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Dennoch bestanden natürlich auch nach der Kapitulation Kiautschous weiterhin deutsch-chinesische Beziehungen, die sich aber weniger auf gemeinsame kulturelle Werte und Austausch, sondern vielmehr auf ein pragmatisches wirtschaftliches Miteinander gründeten.
2.3. Zwischenkriegszeit
Durch die geopolitische Lage, die sich im Laufe des Ersten Weltkrieges und nach seinem Ende ergab, entstand für das Spannungsfeld zwischen China und Deutschland eine besondere, eine gegenseitige Annäherung begünstigende Situation:
Die Einnahme Kiaochows durch Japan nach zehnwöchiger Belagerung am 7. Nov. 1914 und die nach einer anfänglichen Neutralitätserklärung vom 6. Aug. 1914 auf Drängen der USA am 14. Aug. 1917 erfolgte Kriegserklärung Chinas an Deutschland legten zunächst zwar alle deutschen Kultureinrichtungen lahm (die von Missionen betriebenen allerdings nur mit Einschränkungen), erwiesen sich aber in der Folge als eine fast vorteilhafte Niederlage: Das Nachrücken Japans in die Positionen der ehemaligen deutschen Kolonialmacht, das durch den am 28. Juni 1919 von China endgültig abgelehnten Versailler Vertrag von den Westmächten sanktioniert wurde, brachte China und Deutschland als gemeinsame Verlierer nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell näher. Der offiziellen Erklärung der Beendigung des Kriegszustandes zwischen den beiden Ländern durch Präsident Wilson (Sept. 1919) folgte am 20. Mai 1921 das deutsch-chinesische Abkommen, das als erster Vertrag mit einer europäischen Macht auf den Grundsätzen der völligen Gleichstellung beruhte. (Grimm/Bauer 1974: Sp. 252)
In Chinas Augen wurde Deutschland so in einer Art Umkehrung der kolonialen Geschichte zu einem Modellfall, wie die Beziehungen zu westlichen Nationen in der Zukunft ausgestaltet werden könnten. Hier bestanden Chancen auch zu mehr interkulturellem Austausch mit den in China präsenten Deutschen. Deutschland verfolgte dennoch eigene wirtschaftliche Ziele und wollte weiter in China Handel treiben können:
Die Vertreter der deutschen Chinawirtschaft wollten