Stalingrad - Die stillen Helden. Reinhold Busch
ein tapferer Seelsorger. Wenn er einen Soldaten getroffen stürzen sah, war er alsbald bei ihm. Unser General Hube, hervorragend begabt, war zwar kein besonderer Freund der Kirche, hatte aber vor solcher Tapferkeit höchsten Respekt. Sein warmer Händedruck bezeugte es. Wie konnten wir diesen Krieg noch verantworten? Peter Mohr sprach es einmal so aus: Immer sind es unsere tapferen Landser, die für die Sünden ihrer Politiker büßen müssen! Deshalb war Mohr ein besonderer Freund der Landser, wie sie auch ihn überaus schätzten.
Selten, daß General Hube an einem Verbandplatz vorbeifuhr. ‚Bei der Rotkreuzflagge halten,‘ lautete sein Befehl. Auch Ärzte und vor allem Verwundete brauchten ein ermutigendes Wort des Kommandeurs in kritischer Lage! Unser einarmiger General wußte aus eigenem Leid, was ein Verbandplatz und ein gutes Wort für einen Verwundeten bedeuten konnten. Daher sein kameradschaftlicher Handschlag für Dr. Weber, einen Gefreiten oder einen Verwundeten, sobald es seine Zeit als Kommandeur erlaubte. Sein Blick streifte auch über die vielen Gräber neben dem Verbandplatz. Ob er an seinen gefallenen Sohn dachte und daran, daß der Krieg bald ein Ende nehmen würde? Überaus dankbar war Dr. Weber auch für die Besuche von Divisionsarzt Dr. Gerlach.
Nicht immer konnten Pfarrer Mohr und ich bei unseren beiden Sanitätskompanien bleiben, denn wir durften ja auch die Truppe nicht vergessen. Welche Freude, wenn wir auch in den vorderen Gräben auftauchten oder in einem Erdbunker! Jedes Mal aber gab uns Dr. Paal ein Handzeichen, und das besagte: Der Verwundete dort braucht ein seelsorgerisches Wort! So arbeiteten Seelsorge und Medizin im Krieg eng zusammen, ein gutes Beispiel auch für die heutige Zeit. Pfarrer Mohr stand Dr. Weber und seinen Mannen in Stalingrad und während der ganzen Gefangenschaft von 5 ½ Jahren mit glaubender Zuversicht zur Seite.“
Ein einziger Divisionspfarrer war für zehn- bis fünfzehntausend Soldaten zu wenig; jedoch befanden sich in den Sanitätseinheiten der einzelnen Divisionen mehr als 20 katholische Priester, die ihren Dienst als Sanitäter verrichteten. Ihre Mithilfe war zwar von der NS-Führung nicht vorgesehen, doch Dank des Entgegenkommens der in dieser Hinsicht viel toleranteren Kommandeure und Ärzte standen an den großen Festtagen des Kirchenjahres die von verschiedenen Priestern gehaltenen Feldgottesdienste im offiziellen Divisionsbefehl, z. B. in der 297. Infanterie-Division. Alois Beck: „An Großkampftagen war es aufgrund einer Vereinbarung mit dem dafür aufgeschlossenen Divisionsarzt und natürlich auch seitens der am Verbandplatz tätigen Ärzte selbstverständlich, daß bei Abwesenheit des Divisionsarztes, der nicht überall gleichzeitig sein konnte, ein Sanitätspriester den Sterbenden seelsorgerischen Beistand leistete.“37
Schwere Mängel bei der Versorgung der 6. Armee
Es gab allerdings bereits von Anfang an mahnende Stimmen und deutliche Kritik. Oberarzt Dr. Günther Diez38, nacheinander bei der 1. und der 2. San.Kp. 305, schrieb zur gesundheitlichen Situation der Soldaten: „Auf dem Vormarsch durch die Steppe litt die Truppe sehr unter Wassermangel. An manchen Tagen war kein Tropfen aufzutreiben. Kärgliche und verschmutzte Wasserstellen mußten für Mensch und Tier ausreichen. Banale Enteritis-Erkrankungen – vor allem Ruhr, Typhus abdominalis und Paratyphus – häuften sich. Geeignete Krankenkost fehlte außerdem. Auch die Truppenverpflegung war so ungeeignet wie nur möglich. Bei großer Hitze gab es entweder nur Pferdefleisch oder nur Erbsen, nur Fischkonserven oder nur Rübenmarmelade. Das Brot war derart glitschig und naß, daß es nur geröstet genießbar war. Gemüse oder Obst wurden nie herangeschafft. Etwa ab Ende Juli 1942 wurde nur noch die Hälfte der Verpflegungsration herantransportiert; im Hinterland sollten Reserven für eine Schlammperiode geschaffen, die fehlende Hälfte sollte aus dem Lande entnommen werden. Aber dieses Land war Steppe, aus der sich für die Armee wenig entnehmen ließ. Auch das Fischen am Don schloß die Lücke nicht.“39
Dr. Günther Diez (links)
Die 1. San.Kp. 305 bei der Durchquerung eines Baches
Dr. Horst Rocholl40 mokiert sich über fehlende Winterbekleidung: „Da standen die Russen eben da vorne; sie waren besser auf den Winter vorbereitet als wir, denn sie hatten eine sehr praktische Winterbekleidung, Jacke, Hose und Wattejacke. Unsere Winterkleidung war unpraktisch, sie half wahrscheinlich der Bekleidungsindustrie mehr als uns: Eine Überhose mit einem Hosenträger, der angenäht war. Wenn ich aus der Hose mußte – und das mußte ich auf dem Weg in die Gefangenschaft, als ich die Ruhr hatte, sehr häufig –, mußte ich meinen Mantel ausziehen, dann meine Jacke, mußte diese Überhose runterstrippen und die andere Hose öffnen. Dann, wenn ich wieder anziehen wollte, waren meine Hände derart klamm, daß ich keinen Knopf mehr zukriegte. Völlig unpraktisch!
Die 1. San.Kp. 305 in der Donsteppe
Die Winterbekleidung war im Kessel oder in der Nähe des späteren Kessels von Stalingrad angekommen, und Mitte November waren unsere Lastwagen hingefahren und wollten die Winterbekleidung in Empfang nehmen. Die wurde ihnen nicht ausgehändigt – es fehlte der Verteilerschlüssel, d. h., sie wußten nicht, wie viel. Merkwürdigerweise fuhren unsere Lastwagen zurück, und vier Tage später wurde das Bekleidungslager angezündet und verbrannt, damit es nicht der Roten Armee in die Hände fiel! Das bedeutete, daß wir auch im zweiten Winter nur sehr wenig Winterbekleidung hatten.
Sehr begeistert waren wir dann von der Führung nicht mehr. Wenn in irgendeinem meiner Briefe noch Vertrauen in den ‚Führer‘ geäußert wurde, dann waren das entweder tröstende Worte für die Angehörigen, oder es war Taktik gegenüber der Zensur, der die Briefe durchaus in die Hände fallen konnten. Wer sich ganz offen ausdrückte, der gefährdete sich selbst, aber auch seine Angehörigen.“41
Nach der Einkesselung der Armee fehlte die dringend benötigte Winterbekleidung. „Die Lager waren voll von Mänteln, Pelz- und Filzstiefeln. Vom Kommandierenden General bis zur letzten Ordonnanz waren alle, einschließlich der rückwärtigen Dienste, bestens versorgt, nur der Landser in der vorderen Linie, der in offener Steppe, oder wenn er Glück hatte, in einem Loch in der hart gefrorenen Erde aushalten und kämpfen mußte, der hatte nichts, was ihn warm hielt.“42 Das sollte sich wegen der verheerenden Erfrierungen noch bitter rächen. Noch absurder war, dass selbst beim Angriff der Roten Armee auf Verpflegungslager ohne Anforderungsschein nichts herausgegeben werden durfte. Der Soldat Sepp Wirr: „Einige Tage später wurde das ganze Lager mit Petroleum übergossen und angezündet. Bis zur letzten Minute sorgte der Stabszahlmeister mit der Pistole in der Hand dafür, daß ja keiner auch nur eine Konserve aus den Flammen holte, was gar nicht leicht war, da die halbverhungerten Landser immer wieder versuchten zu retten, was noch zu retten war. Militärisch gesehen, hätte er sich einen hohen Orden verdient; laut HDV43 hatte er seine Aufgabe bis zum Letzten vorbildlich erfüllt, auch wenn er an der Menschheit zum Verbrecher wurde.“44
Dr. Hans Dibold, der Autor von „Arzt in Stalingrad“
Dr. Hans Dibold45: „Hygienische Maßnahmen waren auf dem Gebiet der Bakteriologie gut durchdacht und vorbereitet, auf dem der Ungeziefer- und Fleckfieberbekämpfung aber völlig unzureichend, ebenso, was Kälteschutz und Ernährung anlangte; Truppen- und Einheitsführer behalfen sich, so gut es ging, mit Kunstgriffen, die nicht einmal als Tropfen auf den heißen Stein bezeichnet werden durften. In Stalingrad wurden die Folgen offenbar. Zu den Aufgaben gehörte auch die Versorgung der Zivilbevölkerung, an der sich besonders dank seiner Einrichtungen und Stetigkeit das Feldlazarett beteiligte – von Entbindungen bis zu schwierigen Operationen. Die Ortslazarette hatten seltener Gelegenheit, ergriffen sie aber, soweit sie sich bot. Das erste Auftauchen von Fleckfieberverdacht unter der Zivilbevölkerung