Mathilde. Carl Hauptmann
wütend gemacht, »ei was denn fir a Haus, etwa ei's Gemeenhaus!? Was? Oder gar ei's Zuchthaus, wie der Vater? – 's ock gutt, dass er ni mei Vater is!« setzte sie als Trumpf noch oben auf, und es war ihr nun egal, wenn auch die Mutter aus dem Bett gesprungen und sie rücksichtslos geohrfeigt hätte, wie vorgestern. Aber Frau Heintke war müder, als sie selbst dachte, so dass sie die Worte der Tochter nur noch halb auffasste und sie nicht in Wut geriet. Auch war es warm im Bette, neben sich die kleinen, heißen, ineinander gekrochenen Mädchenleiber, und in der Stube begann die Kälte von den dünnen Fenstern her hereinzukriechen, sobald die Ofenfeuer erloschen waren. So blieb es ruhig in der Stube, und auch Mathilde legte sich auf die Seite, um zu schlafen. Trotzdem begann der Gedanke, den Mathilde angeregt hatte, in der jungen Heintke weiterzubrennen und von Zeit zu Zeit wieder aufzuflammen, auch wie kein Licht mehr auf der Ofenbank brannte. »Du werscht fortgiehn! Du hust Arbeit genung – dunda – ei inse Fabrik. Was sölltst du ei d'r Stadt? – a tummes Mädel wie du!! An – a frecher Balg wie du. – Mit a Mannsleuten sich rimtun – und eene Luderei hinter der andern machen, a Eltern Schande machen.« Mathilde musste in der Dunkelheit hell auflachen vor Hohn. Sie war wirklich noch unverdorben. Was sonst an Unflätigkeit und niedriger Gesinnung um sie lag, floss noch ab von ihr, denn die Jugend in der Welt ist ein Panzer gegen alles Gemeine, und eine zarte Blüte ist stärker wie Winter und Modererde und drängt eine Zeit in strengster Reinheit aufwärts. Was Mathilde trieb – hinaus aus dem Unleben, das war eine ziellose Sehnsucht –, und nichts war ihr daran klar, als dass sie gerade daheim nur die Schande zu fliehen hätte.
Es war ja ein elendes Leben daheim. Die Mutter, eine von den Verwahrlosten, die jung und lebensgierig mit einem alten Leiermanne durch die Provinz gezogen und Liebe in jedem Straßengraben oder hinter jedem Strohschober gesucht und gefunden hatte. Dann hatte sie endlich, nachdem der Alte längst tot, dem sie den Leierkasten zog und die Pfennige sammelte, ein Ziel ihrer Reise im Gemeindehause und in der Ehe mit dem Heintke gefunden. Mathilde war das erste Kind, das sie im Beginne ihrer Laufbahn, noch jung und lockend, wie sie damals war, von einem jungen, heißblütigen Bauernsohne im Durchziehen durchs Dorf in einer heimlichen Nacht in der Scheune empfangen hatte. Die andern Kinder alle, die nachher kamen, waren elend, von jämmerlichen und jämmerlicheren Menschen, Vagabunden und Rumtreibern – und dann kam die edle Zucht aus Heintkes Blute. Nun ja – also, wenn Mathilde nicht daran dachte, ihren Eltern Schande zu machen, kann man es gern glauben. Hinaus wollte sie, mit hartem Sinn hinaus. Sie war jung und wollte hinaus. Weiter wusste sie nichts. Sie konnte die Welt und ihren Sinn nicht kennen. Sie wollte nur die Schande fliehen und den Moder des Lebens, in dem sie saß, und aus dem sie früh ausging, verachtet besehen von vielen, und abends heimkehrte, um in Zank und Groll einzuschlafen. Deshalb stand es in Mathilde auch fest, dass sie aus dem Hause ging. Mochte nun die Mutter reden und fluchen und schlagen. Eines Tages würde sie hinaus sein. Eines Tages würde sie eine Stellung in der Fabrik in B. genommen haben, nachdem sie sich heimlich Fahr- und Zehrgeld zusammengelegt. Und das ging ihr noch einmal im Sinne um, das war wie ein Aufgang. Das machte sie noch einmal wie für sich froh lachen, obwohl sie kaum ihre Mienen verändert fühlte. Denn hart war sie, kräftiges Bauernblut machte das faule Blut der Mutter lebendig und tüchtig in ihr. Und dann sagte sie nur, um die Mutter zu beruhigen: »Wenn ich euch wer' jede Woche a schienes Geld heemschicken, werd's 'm Vater und dir recht sein. Was vedient man denn hie unten?« Das beruhigte auch in der Tat die junge Heintke. Der Gedanke, sie könne wöchentlich einen guten Zuschuss erhalten, das derbe, kraftvolle Mädel würde nicht in Zorn und Verachtung hinaus in die Fremde gehen, sie würde an die Eltern denken und für sie arbeiten wie immer, gab einen plötzlichen und völligen Trost in ihre Gedanken. Und sie atmete noch einmal wie erlöst laut hörbar auf – und dann auch die Tochter – und beide sprachen an diesem Abend kein Wort mehr.
2
Der erste Brief nach Haus
Mathilde war jetzt in der Stadt. Sie war mit einem jungen, verliebten Kerle, und einer anderen Fabrikarbeiterin, die im Tale wohnte, dahingekommen. Sie hatten nicht unbesonnen sich schon vorher eine Arbeitsstelle zu verschaffen gewusst und strömten nun morgens, ehe Sonne und Tag die Welt erhellt und rege macht, im Dämmergrau des Laternenscheins, oder auch in Regen und Dunkel, wenn kaum nur ein Bäckerjunge mit übergroßem Korbe am Arme, oder ein verspäteter Säufer durch die leeren, stillen Straßen fegte, ein in das große Tor, wo der alte bärbeißige Portier jedes einzelnen Meldung in Empfang nahm. Sie arbeitete jetzt mit Hunderten, die ihr Los teilten, und verdiente gut. Sie lief in die Arbeit noch immer, wie sie in den Bergen gelaufen und morgens in Hast zu Tale geeilt war, um nicht zum Arbeitsbeginn zu spät zu kommen. Noch immer eng und ärmlich die Jacke, in der Farbe verschlissen und unkenntlich, den Rock zu kurz, wie eine, die zur Schule geht. – Sie sah frisch aus und gesund – stark und rosig – und wenn sie mittags oder abends im Strome der jungen oder verwelkten, frechen und höhnischen Arbeiterinnen aus dem Tore der Fabrik – unter Hunderten eine allein, für sich herausschritt, während die andern drei und vier und mehr unterfassten und lachend und schwatzend vorwärtsstürmten – da stand mancher Junge und sah ihr nach und dachte daran, den harten und sicheren Zug in diesen jungen Mienen zu gewinnen – und die Werkmeister und der Portier, alle sahen oft heimlich auf sie, die wortkarg und entschlossen und doch wie ein Kind ihre Arbeit tat, willig und stark und geschickt, pünktlich kam, kaum von der Arbeit aufsehend und jeder Annäherung abhold wie eine Seele aus Erz.
Und immer schritt sie heim in eines der alten Hinterhäuser, die in der Nähe der Fabrik in einer schiefen Gasse eng aufeinander lagen, wo kaum ein Fleischerwagen einer Karre ausweichen konnte, so eng und alt – und wo in den Häusern, die kaum zwei, drei Fenster breit, schmal und niedrig waren, die alten schiefen Treppen bei jedem Tritte krachten, und allerhand seltsame Ecken und Winkelstuben lagen, zu denen man durch kleine Treppchen extra aufstieg. Dort wohnten ein paar böhmische Wäscherinnen, alte Mädchen mit Narben, die erfahren waren, bei denen lebte Mathilde. Diese Narbigen mit eingesenkten Nasen und hässlichen, heiseren Stimmen hatten ihr gleich Unterkunft geboten. Sie war froh, aus dem Gemeindehaus fort zu sein. Das lange Zimmer mit dem einen Fensterschlitz gefiel ihr fast, weil Sand auf der weißen Brettdiele lag, auch die Treppen im Hause weiß und gereinigt aussahen, und anständige Arbeiter, ein junger Schlosser aus der Fabrik mit Frau und Kind und andere junge und alte Familien hier wohnen mochten. Zudem hatte Mathilde nie bisher erfahren, dass ein Mensch einen andern zwecklos lieben kann. Die Wäscherinnen hatten Gefallen an ihr wie an einem Kinde. Sie hatten Gefallen an dem jungen, blühenden Leibe, der früh aus den Lumpen und dem zerflatterten Arbeitshemd licht aufstieg und vor der angeschlagenen, braunen Waschschüssel stand, um sich zu erfrischen. Auch Mathilde gefiel das. Daheim hatte sie es nicht gekannt. Waschschüsseln gab es nicht. Wer sich waschen wollte, musste an den Trog laufen, hinaus ins Freie, und davor hütete sich in Winter und Kälte jedes. Nun empfand sie es wie ein Wunder, wenn sie Hals und Brust kühlte und sie rosiger wurden und blendend. Und die beiden narbigen Mädchen, deren Leben sie gar nicht kannte, und wonach zu fragen ihr nie in den Sinn kam, lagen in ihren Betten und sahen sie heimlich stehen, ein Bild ihrer eigenen, verlorenen Jugend, schlank und stählern, und liebten sie aus heimlichem und ungedeutetem Grunde – schenkten ihr kleine, liebe Dinge, brachten ihr Süßigkeiten, sie schlief in ihrem Bett. Es kam, dass Mathildens Züge daheim alle Härte vergaßen, dass sie grundlos auflachen musste bei dem Gedanken, dass diese alten Mädchen beide welterfahren, sie froh zu machen suchten. Ja, sie begann selbst, sie zu lieben, so dass sie eine Zeit zugänglicher wurde daheim und kindlich und freundlich. –
»Morgen, wir gehn hinunter – in die Hallen«, sagte die eine Alte zur andern.
»Wenn Kind mitkummt«, gab die andere dawider.
Mathilde stand am Fensterschlitz und nähte an einem grünen Rocke, den ihr die Böhmische geschenkt hatte.
»Wie, Mädele? – Nun? – Wie ist?« – denn Mathilde hatte nicht von der Nähterei aufgeblickt und hörte kaum.
»Willst du nicht sagen, Kind?« tastete die Sprechende weiter.
»Oh, ich wiss nee!« Mathilde war es peinlich, dass man von den Hallen sprach. Einer der jungen Menschen, die in der Fabrik arbeiteten, ein kleiner, schmächtiger, dessen Kopf etwas in den Schultern steckte, aber der eine feine Haut und einen weichen Bartflaum besaß, hatte sie auch heimlich gebeten, hinzukommen, und sie hatte ihn