Mathilde. Carl Hauptmann

Mathilde - Carl Hauptmann


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sollte nicht das ihre werden. Lieber wollte sie tot sein. Und sie war auf der Hut – wie vor Gift und Feuer. Wenn sie nicht davon sprach, dass nun tausendmal Junge und Alte sie heimlich locken und zu allerhand Abwegen führen wollten, so war es nur, weil sie zu niemand von all ihren stillen Wünschen und ihren Rückblicken sagen mochte. Und außerdem wollte sie nicht beredet sein. Sie litt das Geschwätz nicht, das so leichtsinnig in allerhand Lüsternem hintändelt, deshalb auch mochte sie sich keiner ihrer Mitarbeiterinnen anschließen. Sie schreckte zurück. Sie schreckte im Grunde vor jedermann zurück und war misstrauisch auf alle. Und blind feindselig gegen jede Annäherung, hart und ablehnend, wer es auch versuchen mochte. Deshalb sagte sie noch einmal ganz bestimmt und mit Härte, wie sie ihr daheim jetzt ungewohnt war: »Nee, ich will nee.«

      Aber die Alte, fast erschrocken über die Zornblicke, die Mathilde dabei annahm, nahm sie in ihre Knie, wie man ein liebes Kind zu sich nimmt und strich ihr die Härte aus dem noch schweißigen Gesicht, dass sie kindlich lachen musste. – Es war Sonnabend Abend – der Tag noch hell – wie Mathilde eben aus der Arbeit heimgekommen war und es nicht erwarten konnte, sich hinzusetzen für ihren Sonntagsstaat.

      »Warum, Liebe,« sagte die Dunkle zu ihr, »is sich Theater durt – man kann schauen – Suldaten sind sich durt – viel Vulk is sich durt – singen wirst du hören – komm mit, Kind! Bist du jung, wirst dich tanzen lernen – auch durt.«

      »Nee, nee – das alles will ich ni lernen«, sagte sie, unwillig sich lösend, und so blieb es auch. Der Sonntag kam, sie saß am Morgen und wusch und nähte. Sie schrieb den Nachmittag an einem Briefe mit Zeichen hin und her, lang und groß – und es hieß darin: »Geliebte Mutter, Du wirst wohl denken, ich bin ganz nicht mehr wie Deine Tochter. Hier ist alles schön und man vergisst alles – auch, weil ich in tüchtiger Arbeit bin, wovon Du ein Zeichen hierbei findest, indem ich Euch schon zehn Mark schicken und noch mehr verdienen will – und immer schicken« – usw. Ein guter Brief, ein freundlicher Brief. »Geliebte Eltern.« – Sie war fast in einiger Sehnsucht. Sie saß reinlich gekleidet am Fensterschlitz auf dem Schube, und es mochte eine lange Zeit, Stunden des Sonntagnachmittags vergangen sein, so sank sie ein in das Bild ihrer Heimatwege – und nichts fiel ihr ein, als nur das Gute, dass da eine geliebte Mutter war, und Elend und Groll waren ausgewischt. Sie dachte auch an die kleinen Mädchen mit den Strickstrümpfen vor der Rauchlampe, und wie sie den Brief mit bedächtigen Zeichen adressiert und sorgfältig besiegelt hatte, musste sie wohl ein über das andere Mal die Nase wischen und mit den Fingern die Augenlider ausdrücken.

      3

      Fabrikmänner

      In der Fabrik ging es gut. Und wie die Räder schnurrten und surrten, und alles in Bewegung und Lärm und in Vorwärtsdrängen sich abspielte, machten die jungen Direktoren und Werkmeister und auch der Portier fröhliche Gesichter. Sie wussten, man verdiente, nun sollten alle ihren Teil haben. Es gab lange Arbeitszeit, und jeder einzelne Arbeiter trug am Sonnabend guten Lohn heim. Auch die Arbeiter machten gute Mienen, besonders die jungen. Und es ging auf den Sommer zu. Da war auch das Schlendern zum Feierabend wiedergekommen. Und wenn die Stadtuhren sieben schlugen, hastig oder feierlich, je nachdem es aus dem Stadthaus oder von den Kirchen klang – da eilte jung und alt und wusste, wo es sich zu finden hätte. Dann liefen die Mädel in Reihen um die entstehenden Neubaue, wo die jungen Maurergesellen froh warm, sie hinter Schuppen und Ziegelständen zu drücken, oder sie schlenderten ins Feld, paarweise, und manche saßen auf den Bänken, manchmal eine halbe kühle Frühlingsnacht, oder trieben sich lachend und schäkernd auf den Promenadengängen am Wasser und um das rauschende Wehr herum. dass Mathilde nicht darunter war, gab bald Anlass zu heimlichem Gered«. Man sah sie nie. Die Mädel ärgerte es, und sie erfanden sich allerhand Gründe, die sie höhnisch und fast innerlich beleidigt ihren Burschen zum besten gaben. »Die hält's mit 'n Grussen«, foppten sie. Und es kam auch in der Fabrik unter den jungen Männern und Weibern herum, »die hält's mit 'n Grussen«. Jeder wusste wohl, dass sie dem und jenem jungen Werkmeister gefalle, der sich mit ihr gern eine heimliche Lust machen würde. »Se is zu stolz mit insereens«, sagten manche. Und man erfand auch gleich wer. Es war nur Gerede. Aber man spannte dann auf den Bewussten und beobachtete sie, obgleich sie noch in der Arbeit die engen, ärmlichen Gemeindehauslumpen trug – und ärmlich und gar nicht nach einem Großen aussah. »Luss dr ock endlich amol a längeres Kleed schenka, Mädel«, höhnten die Mädels. Und sie versuchten, sie zu necken und zu ärgern. Mathilde sah es und hielt an sich, wie sie es im Gemeindehaus einst gelernt hatte. Was die Mädels da redeten, war Gemeinheit. Sie hasste die Brut und mit keiner mochte sie Umgang haben. Und eines Tages kam eine, die wusste zu erzählen, sie wäre eines jungen Kommis Gesponse – denn man wollte sie mit ihm im Dunkel haben verschwinden gesehen. So kindlich und bettelhaft arm sie noch immer aussah. Alles war Gerede, aber man machte sich eine Lust, um die junge, stolze Person einen ganzen Kreis Erfindungen auszustreuen. Sie litt unter dem Hohn, im Grunde störte sie's nicht. Sie dachte, das ist das Leben. Was wollte sie auch tun? Sie litt es, es kaum recht begreifend, weil keine vertraulich mit ihr war – und niemand ihr den wahren Grund aus den neidischen Quellen verraten mochten Sie dachte also: das ist das Leben und kam und ging – tat ihre Arbeit und sah stolzer und stolzer aus.

      Und die jungen Männer buhlten heimlich um sie. Wer denkt, dass überall ein freier Sinn das Stolze und Tüchtige nur gewähren lässt, wie reine Bergluft das Aufwachsen eines jungen Baumes, der weiß nicht, dass die Menschen am Seile der Leidenschaften gefesselt und geführt sind. Jeder, der sich nach ihr sehnte, versuchte ihr etwas anzuhängen. Die jungen Burschen schrieen ihr Namen nach, die sie vergaß – so schändlich waren sie. Einmal in einer kleinen Schenke, wo man an schmutzigen Tischen Schnaps trank, und der übermäßig dicke Wirt immer die Mütze auf dem Kopf trug, saßen viere, die eine Wette machten, dass sie Mathilde verführen könnten. »Das wer'n mir sehn«, sagte der eine, der Soldat gewesen war – und er wiederholte es noch einmal, als ein andrer vom Trottoir herein in die Schenkstube trat, schwerfällig und mit guten, einfältigen Zügen, der nur sagte: »Tag, Simoneit«, und dann gleich den Schnaps in den Hals goss und schmunzelnd zuhörte. »Das wer'n mir sehn!« rief Simoneit noch einmal. »Die kann noch a su stulz tun, die ha' ich – ei enner Woche, wenn ich wil« – und er riss die dunklen, sicheren Augen prahlerisch in die Höhe und stieß die Mütze in den Nacken, dass ein Strähn loser, dunkler Haare ihm in die Stirn fiel. Und es gab ein Lachen – und ein älterer Arbeiter sagte bedächtig: »Sag ock ni zuviel, Perschla – könnt'st afahren –« und die anderen lachten wieder und schrieen: »A Alter wie du, freilich.« Und es kam ein Vergnügen unter die Leute, dass der Wirt auch hinzutrat und wissen wollte – und man erzählte ihm genau, dass sie jung und stolz und böse wäre, wie eine Katze. Und Simoneit schrie: »Ich fang se, wenn se mich au' krallt!« Und der Wirt sagte: »A Mädel, nee, das wär gar – nu ich ha mir au' Rat gewusst« – und er sagte, dass nun die andern noch einmal in helles Gelächter fielen, wie sie den Dickbauch, der sich nur mit mehreren Schritten noch um sich selber drehen konnte, seine Liebesabenteuer erzählen hörten – er sagte: »Je stulzer de Mädeln tun – desto wilder sein se«, und Simoneit schrie noch einmal: »Heinrich, was wettst de, ich ha se ei enner Woche ha ich se« – und sie wetteten.

      Es waren alles junge, kräftige Männer, sie waren erhitzt im Gesicht und angetrunken und rücksichtslos – und wie sie hinaustraten auf die Gasse, mussten sich die Passanten vorsehen, weil sie in ihrer Wildheit jetzt auch Lust verspürten, sich am anständigen Rocke zu reiben, und Mädchen und Frauen mussten eilig und ohne sich umzublicken, hinübergehen auf die andere Seite, dass sie nicht Wort und Hohn aus ihnen neu herauslockten. Jung waren sie, und waren doch schon wie die Alten – sie kannten alles zur Genüge – und waren ausgenützt. Keine Seelen, die noch etwas anderes dachten und wünschten, als was kalt und trocken wie ein harter Stein zuletzt in ihren Händen blieb. Sie sahen Blumen nicht blühen – und sahen nicht, dass weiße Wolken am Himmel zogen – hoch über den engen Straßen – und Vögel zogen in den Lüften. Sie gingen hinein noch in die Destille, wo sie um den Schenktisch standen – und tranken sich zu, die Mützen hinten, und lachten und tollten wie oft.

      Nur einer hatte nicht gesprochen, aber er war kränklich und schmächtig und klein. Er wusste, dass er nicht aufkam gegen die Gesunden. Deshalb schwieg er. Und vor der Destille hatte er sich von ihnen getrennt und war heimgegangen. Und es nagte an ihm.


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