Mathilde. Carl Hauptmann
Es ging. Sie hatte noch nie getanzt. Aber der Kerl hielt sie fest umschlungen, und es ging ganz außer maßen – sie musste staunen und sich umsehen. Und wie sie blickte, erkannte sie den Kleinen mit der zarten Haut, der den Blick nicht von ihr wandte. Das hätte sie beinahe außer Ordnung gebracht, und sie war fast verwirrt, wie der Angetrunkene sie endlich losließ, und sie auf ihren Platz fiel, dass er prahlerisch lachte, ehe er sich mit einem Ruck wieder dem Saale zuwandte. Und nun blieb sie an derselben Stelle lange stehen und wagte keinen Blick. Und wieder kam eine Angst über sie. Sie war einige Male drauf und dran, wie unter der Linde, fortzulaufen, aber sie war auch gebannt und wagte nicht. Bis sie fast verstohlen sich hinausdrückte. Es war dunkel im Garten – das Getöse des Saales mit seinem Schein verlor sich im Schatten unter den alten Kastanien, unter denen Tische standen. Sie wollte jetzt doch heimgehen. Da trat wieder etwas aus dem Schatten zu ihr. Sie wäre in der Tat fast ohnmächtig geworden, so schwanden ihr in dem Augenblick die Sinne.
»Mich magst de nee – und mit an sulchen Kerle tanzt de«, sagte eine Stimme zornig. Sie war in solcher Glut, dass ihr zu heiß wurde vor Scham, und fand nicht ein Wort zu erwidern. Es war in einer Partie des Gartens, die am Wasser lag. Eine Grasbank stand da, sie sah zur Erde. Und dann in die im Sternenlicht vorbeischießenden Wellen und seine Hand suchte die ihrige.
»Nee – nee,« sagte sie ganz weich und schüchtern, »wenn ich nu eemol doch heem muss – luss mich – luss mich ock – a andermal – ich kann ja a andermol – meinetwegen will ich au ni so sein, wenn de gut zu mir bist.« Und sie dehnte sich langsam und unentschlossen und blieb doch feststehen, ihre Finger mit dem gesenkten Blicke zählend und hatte in der gänzlichen Verwirrung sogar auf die Grasbank sich niedergelassen. Bis dann zum ersten Male in ihrem Leben an ihr Ohr kam, was ein sehnsüchtiger, huckiger Verliebter in die Sterne und in die rauschenden Wasser, die in der Nacht blinkten und plauderten, heimlich mit fieberglänzenden Augen flüsternd und zitternd redete.
5
Wie Skrupel erwachen
Mathilde hatte die halbe Nacht mit Saleck zugebracht. Nicht viel sprechend, nur dass er, der ärmlich und kränklich war, und der unter seinen Kameraden in der Fabrik nichts galt, wenn sie schrieen und tranken, nur dann und wann, wenn es hieß, ein besonnenes Wort mit sorglicher Stimme hinzuzutun – um Mathilde seinen langen Arm gelegt –, und so gewissermaßen Besitz genommen – und sie, verlegen über die Güte, und das Glück, das aus seinen zärtlichen und schmächtigen Mienen leuchtete, es ruhig und wortlos hingenommen. Sie war nicht gewöhnt, wenn jemand zwecklos gab, nur um Freude zu machen. Noch weit weniger jene stille Hingabe, die jetzt aus dem fremden Manne kam, und gar nichts wollte, als sie zärtlich berühren, und sie ließ den kränklichen Menschen gewähren, selbst in Scheu und Scham vor allem und wortlos, und wohl auch in sich hineinsinnend, und in die Sterne den Blick spinnend – oder auch auf seine Hände, die mit den ihrigen spielten, Finger um Finger besehend von der schwieligen, jungen Arbeitshand, niederblickend und verlegen lachend, wie als wenn sie fortfliegen und nicht bleiben könnte, so innerlich verwundert und unbegreiflich war ihr alles im Lichte der Sommernacht vorgekommen. Und was Saleck geredet, war klug und sinnig. Das war nun klar. Einer, wie die Gesunden, die roh wurden, und die lüstern und laut einherstürmten, war er nicht. Er gefiel ihr – so dürftig sein Ansehen, so sehr sein Kopf auch in den Schultern saß, so feucht und fiebrig seine Hände schienen, heiß und kränklich –, seine Augen sprachen so lebendig und froh und hatten sich in Mathildes helle, frische, steinige Blicke so fragend eingebohrt, dass sie nicht anders als nur schweigend und still und in Scham und Sinnen und in kaum geahnter, stummer Erwiderung seine Hingabe angenommen. Sie war spät durch die Straßen gegangen. dass er sie begleitete, als sie aus dem Schatten der Promenadenbäume heraustraten, wollte sie nicht. Es war ihr ganz plötzlich eingefallen, dass sie nach Hause müsste.
»Nee – ich muss heem – nu muss ich – nu muss ich.« Und sie hatte sich aus seinen Armen schnell gelöst, dass die heiße Stelle, wo seine Hand um ihre Brust gelegen, nun ganz kühl wurde und sie das Tuch fester um sich zog.
»Und du bleibst«, sagte sie bestimmt. Es war wie ein Erwachen. Die Welt kam ihr wieder vor die Augen. Der Traum, in dem sie geschwommen war im stillen Sinnen und Erstaunen – nun wich er. Sie zog das Tuch fester und richtete sich auf. Saleck sah sie im Hellen stehen und fand kein Wort. Sie hatte ihn fast unsanft geweckt. »Du bleibst – ich geh nu heem.«
»Wenn sehn mir ins denn,« sagte er, »warum gihst de denn?«
»Oh,« sagte sie zögernd, »ei der Wuche kumm ich nee.«
»Warum sull ich dich denn ni bis zum Hause führen?«
»Ich will ni«, und der kleine Schmächtige hielt sie zurück.
»Nee, nee – ich will ni – 'S braucht's kees wissen –.«
»Mädel,« sagte er, »asu willste fort?« und er nahm und hielt sie am Handgelenk fest, und dann küsste er ihre Hand zärtlich, wie ein feiner Liebhaber, und plötzlich so inbrünstig, dass er ihr wehe tat. Sie machte sich los und begann eilig zu laufen.
»Uf de Mittwuch«, rief er, ihr nacheilend – und erwartete eine Antwort. Aber Mathilde war von fernen Schritten wie aufgeschreckt und war nicht zu halten, war längst um die Straßenecke und in das kleine Nebengässchen eingebogen, in das ein altes Gitterfenster eines Fleischerladens wie ein Erker hineinragte, und vor dem eine scheckige Katze saß und heimlich über die Straße verschwand. Und Mathilde war nun in Unruhe. Wie sie in ihr Haus eintrat, fand sie es offen und im Hausflur tastete der Schlosser, der betrunken war und Unverständliches lallte, dreist nach ihr langte, wie sie in Angst an ihm vorbeistob in ihr Seitentreppchen, und dann höhnisch ihr nachrief: »Aha, aha, hust dr au a Vergnigen gemacht, Mädel, bist au eene vu da Wilden! Hahaha.« Mathilde schnitt es wie mit Messern. Sie war fast zu Tod erschrocken und in ihrer Angst hatte sie die Türe wie toll aufgerissen, dass jetzt die eine Narbige, die Dunkle, sich im Bette aufrichtete – die andere war noch nicht heimgekommen – und ganz erschrocken und verstört, als wenn sie ein Unheil sähe, in den Mondschein starrte, der um die Tür lag, wie Mathilde in plötzlicher Angst, und als wenn ihr ein Böser folgte, die Tür ins Schloss riss und von innen verriegelte.
»Oh«, sagte und stöhnte die Böhmische schlaftrunken. »Was? – wer? – wer ist denn? – Himmel – sag doch –«
»Stille, ich bin's,« sagte leise Mathilde noch fiebernd, »Maiwald steht betrunken im Hause, er kam mir nach«, und sie stand und lauschte. Aber es blieb alles still. Man hörte nur Trappen und vor sich Hinlachen und Murren, die Treppen krachten. Er stieg in den oberen Stock unters Dach. Man hörte weiter die dumpfen Tritte und dumpfes Sprechen, was wie heimlicher Streit klang, sonst blieb es im Hause still. Und Mondschein fiel vom aufgehenden vollen Mond am Horizont bis zur Tür, wo Mathilde immer noch stand und sich nicht fortbewegte – und die Dunkle legte sich ins Bett zurück, dass man die Betten rauschen und das Bettstroh knistern hörte – versuchte noch einmal zu lachen, wollte auch fragen, wo Mathilde herkäme, aber alles erstarb und blieb still – so dass Mathilde nur in den Mondstrahl starrte – immer noch – und sich kaum besann, so schwer war ihr von der Nacht, so unklar und in Angst mischten sich die Gefühle – und so seltsam kam auch aus dem Licht das hingebende, zärtliche Gesicht und griffen nach ihr die heißen Hände – dass sie sich nicht ermannen konnte. dass sie auffuhr und ans Fenster trat – und wieder stand – und über die Gasse sah, wo auch der Mond in Flecken hell lag – und sich nichts regte. Und Mathilde erfüllte es plötzlich wie Schmach und Glück zugleich. Sie sann zurück. Sie dachte, dass es niemand wissen durfte. Es gellte das Lachen des Schlossers nach. Und sie erhob sich zornig fast – und warf ihr Tuch auf ihren Korb – fast in Erbitterung – sie sah die Dunkle liegen und hörte ihr lautes, röchelndes Atmen. Sie wurde so erregt, dass sie ihr Kleid aufriss und vor sich hinsprach – neu an das Fenster ging – und sie stand am Fenster und atmete hinaus, wie sie es aufgerissen. Es war ihr zum Springen. Sie war unzufrieden. Sie löste ihr Haar, das verwildert war und fühlte am Kopfe noch die Stelle, wo sie ihm an der Schulter gelegen – und lachte fast erbittert – weil es ihr lächerlich erschien – und sie begriff nichts recht. Nur das Lachen und die erstorbenen Fragen der Narbigen kamen in ihr neu auf; und sie machte sich Gram. Sie dachte – jetzt bin ich auch eine von denen – und