Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus. Andreas Suchanek
Als sich das Schott zu seinem persönlichen Quartier hinter ihm schloss, hielt Alpha 365 inne und ließ die vergangenen Ereignisse vor seinem geistigen Auge erneut ablaufen. Sein eidetisches Gedächtnis und der detektivische Spürsinn, beides Teil der psychischen Konditionierung von genetischen Offizieren der Alpha-Klasse, vereinfachten dies ungemein.
Bevor er sich um den Verräter kümmerte, galt es noch, etwas anderes zu erledigen. Er rief die Erinnerung an Lieutenant Bruce Walker ab, der aktuell auf der Krankenstation der HYPERION im künstlichen Koma lag. Alpha 365 hatte seine ganze Autorität in die Waagschale geworfen und es schließlich geschafft, dass sie den Offizier mit zur Erde nehmen durften.
Er erinnerte sich an das bleiche Gesicht, die Blutlache unter dem Körper, das Zittern in der Stimme. Aus der Vergangenheit seiner Erinnerung drangen die Worte an sein Ohr: »Sie schauen in die falsche Richtung.«
Alpha 365 ließ sein Unterbewusstsein arbeiten, während er an sein digitales Dashboard trat. Verknüpfungen entstanden in seinem Geist, Informationen fügten sich zusammen, die Knoten eines Netzes verwoben sich. Er begann damit, sie aufzuzeichnen.
Da war die HYPERION mitsamt ihrer Crew. Er betrachtete dieses Element von allen Seiten. Nein, es reichte nicht aus. Er begann damit, die Offiziere aufzuschlüsseln. Sein Instinkt sprach an, wollte ihn auf etwas aufmerksam machen. Warum genau diese Crew?
Cross, ein Held, Mittelpunkt des medialen Interesses. Ishida, Erzfeindin von Admiral Michalew. Kensington, die durch den Tod ihrer Eltern den Großteil ihres Lebens auf Tikara II verbracht hatte. Akoskin, in dessen Vergangenheit es nahezu nichts Auffälliges gab. McCall, die mit Bestnoten die Akademie abgeschlossen hatte, aber so schüchtern und introvertiert war, dass ihr niemand eine große Karriere voraussagte. Task, der die Aufnahmeprüfung in die Akademie erst beim dritten Anlauf geschafft und den Abschluss nur mit Mühe und Not hinter sich gebracht hatte, der nahezu unsichtbar war. Was machte ein Offizier wie er auf der HYPERION?
Alpha 365 trat einen Schritt zurück und besah sich das winzige Netz, das er aufgezeichnet hatte. Von der ersten Mission der HYPERION an hatte ihm sein Unterbewusstsein etwas zu sagen versucht.
Etwas stimmt nicht.
Er begann damit, ein leeres Feld anzulegen, das den Verräter darstellen sollte. Wie war dieser mit alldem verbunden?
Als Nächstes zeichnete er jene Admiräle ein, die in direkter Verbindung zur Crew standen. Da war Michalew, der Hardliner. Sjöberg und Jansen, die Unterstützer. Pendergast, die bei der Ernennung einiger Offiziere ihre Hand im Spiel gehabt hatte.
Er verband die Linien, verstand jedoch noch immer nicht. Was hatte Walker ihm zu sagen versucht?
Sie schauen in die falsche Richtung.
Alpha 365 zeichnete die beiden Artefakte ein und zog eine Linie zu dem Verräter. Dann fügte er die Parliden hinzu, die irgendwie mit den Fraktalen verbunden waren. Das Netz wurde dichter, doch noch immer konnte er den Hinweis von Walker nicht deuten.
Worauf habe ich bisher geschaut?, fragte er sich und analysierte das Bild.
Er verwendete die Löschfunktion und entfernte den Verräter und die Artefakte sowie die Parliden wieder aus dem Bild. Walker hatte ihm keinen Hinweis darauf geben wollen, es war um etwas anderes gegangen: seine Verwicklung in die Manipulation des Torpedos und den Mordversuch an ihm. Jemand hatte einen Killer geschickt. Die Frau in der Arrestzelle, die Frau mit den tiefblauen Augen, hatte versucht, Walker umzubringen. Natürlich hatte er sie an ihren tiefblauen Augen erkannt. Sie war eine Auftragskillerin des Ketaria-Bundes. Er hatte im Chaos nach dem Kampf nur schwer Ermittlungen anstellen können, wusste nicht, wann und wie sie auf die Station gelangt war.
Doch viel wichtiger erschien ihm momentan die Frage, auf wessen Befehl hin sie das Attentat durchgeführt hatte? Wie hing alles zusammen? Die Crew, die Manipulationen, die Aktionen und Reaktionen?
Michalew hatte den Auftrag für die Tötung gegeben, davon zumindest ging Alpha 365 aus. Doch warum? Weil er keine andere Wahl gehabt hatte, musste er doch das Versagen seines Mannes an Bord vertuschen. Andernfalls kam heraus, dass er versucht hatte, Ishida zu diskreditieren.
Erstmals zog Alpha 365 in Betracht, dass es nicht Walker gewesen war. In diesem Fall hätte Michalew trotzdem keine Wahl gehabt, nachdem man es seinem Mann in die Schuhe geschoben hatte. Dann wäre ein anderer verantwortlich, der eine Reaktion provozieren wollte. Oder der- oder diejenige hatte Ishida schützen wollen. Beides war möglich. Und in beiden Fällen hatte es erneut nur aus einem Grund zu dieser Situation kommen können. Sein Blick fiel auf das kleine Netz, das die Kommandobrückenoffiziere der HYPERION darstellte.
Und dann begriff er.
Mit schmerzhafter Klarheit besah er sich das Bild, dessen Fragmente sich wie von Geisterhand in seinem Geist zusammenfügten. Jetzt sah er das Gesamtbild, verstand die Zusammenhänge.
Ich habe in die falsche Richtung geschaut, das haben wir alle.
Die Tragweite seiner Entdeckung ließ ihn innehalten – seine Gedanken rasten.
Nach einigen Sekunden verwendete er die Löschfunktion und entfernte die Elemente von der elektronischen Tafel. Da die Verbindung zum Galaktischen Netz wieder bestand, aktivierte er einen Nachrichtenkanal. Noch immer war die Schlacht um NOVA-Station Gesprächsthema Nummer eins. Als hätte ihm jemand eine Binde vor den Augen fortgezogen, las er zwischen den Zeilen. Das Ergebnis war ernüchternd: Er kam zu spät. Ein Eingreifen seinerseits kam nicht mehr infrage. Also blieb nur die zweite Option: Er musste Vorbereitungen treffen.
Alpha 365 deaktivierte den Nachrichten-Feed und machte sich ans Werk.
*
Legat 2 saß in seinem persönlichen Quartier und zappte durch die Nachrichtenkanäle. Der letzte Dominostein fiel. Die Reporter stilisierten Cross zum Helden und verdammten die Parliden, die mit dem Angriff auf NOVA doch gar nichts zu tun gehabt hatten; das waren seine Leute gewesen.
Vor wenigen Minuten war die Bestätigung eingegangen. Die Computerviren, die die Verfolgerschiffe im letzten Moment in den Kern des rentalianischen Schiffes PI-RA-SO-MA-FE hatten überspielen können, hatten dem Navigator einen falschen Kurs vorgegaukelt, während die Rentalianer in Wahrheit mitten in einen Hinterhalt geflogen waren. Gleiches galt für das menschliche Schiff, das das erste Fraktal zu einer geheimen Station hatte bringen wollen. Damit befanden sich alle Teile des Artefaktes endlich in ihrem Besitz – auch wenn noch keiner etwas davon ahnte.
Die nächste Phase konnte beginnen – und das musste sie auch. Jener Mensch, der alles verändern würde, leitete die letzten Schritte ein. Mit anderen Worten: Die Lawine rollte. Legat 2 seufzte. Damit war seine Zeit an Bord der HYPERION vorbei. Alpha 365 war wie ein Hai – wenn er einmal Blut witterte, wurde man ihn nicht mehr los. Natürlich hatte Legat 2 ein paar falsche Spuren gelegt, doch die konnten dem gezüchteten Soldaten nicht lange standhalten.
Das Artefakt war also in seiner Hand, alle Spuren auf seine wahre Identität beseitigt und seiner Flucht stand nichts im Wege. Zugegeben, es fiel ihm schwer zu gehen. Gerade fühlte er sich heimisch an Bord des Interlink-Kreuzers. Der Chip von Captain Cross war erfolgreich manipuliert worden, die Fraktale konnten geborgen werden, NOVA-Station war fast vollständig zerstört – aber wie geplant nicht ganz –, und Pearl würde so schnell niemand mehr besiedeln. Was blieb also noch zu tun? Sollte er es wagen und den Flug zur Erde mitmachen oder vorher verschwinden?
Legat 2 aktivierte seinen Monitor und betrachtete die Kamera-Feeds der persönlichen Quartiere eines jeden Kommandobrückenoffiziers. Er wusste alles über sie, kannte all ihre kleinen Geheimnisse und jeder besaß eines. Für einige Sekunden bekam er Mitleid. Sollte er sie warnen? Sollte er ihnen mitteilen, was sie erwartete? Dass sie auf keinen Fall zurück zur Erde fliegen durften? Er zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf und deaktivierte den Kamera-Feed.
Eine Flucht musst geplant werden.
*
Forschungsstation CAVE, Kuiper-Gürtel,