Jenes hügelige Sein. Hans Haumer

Jenes hügelige Sein - Hans Haumer


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      In meinem Hauptberuf war ich wohl für die meisten Menschen, die mich flüchtig kannten, ein Banker, ein Mann der Wirtschaft. Manche wussten auch, dass ich angeblich ganz leidlich Klavier spielen könne. Das stimmt zum Teil. Es gibt vieles, was nicht so bekannt ist. Ich hatte ein Leben lang viele Interessen und die Gelegenheit zu vielfältigen Erfahrungen in aller Welt. Als begeisterter Lehrer und lebenslang Lernender hat mich das Streben nach Lebensweisheit immer wieder in die Höhen und Tiefen der Gedankenwelt geführt. In meiner beruflichen Tätigkeit war ich bemüht, die mir anvertrauten Mitarbeitenden in einem humanistisch geprägten Geist zu führen. Von vorsichtigem Optimismus getragene Meinungen über die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft der Menschheit fanden Niederschlag in Büchern, Kolumnen und Vorträgen. Die wichtigsten Stationen meiner achtzig Jahre samt zeitgeschichtlicher Erinnerung und philosophischer Besinnung bilden diesen Abriss Jenes hügeligen Seins, als welches ich mein Leben sehe. Nicht zu schroff, nicht zu sanft, nicht zu laut, nicht zu leise, manchmal bergauf, dann wieder bergab, bis der Wanderer eines Abends Ruhe und Schlaf findet.

      Statt mein Leben einfach niederzuschreiben, wollte ich es erzählen. Constanze hört dieser Erzählung geduldig zu, unterbricht manchmal mit einer Frage, inspiriert mich dazu, nicht vom Hundertsten ins Tausendste, sondern „zum Punkt“ zu kommen, und war eine lebende Mahnung für mich, an die Zukunft und unsere Verantwortung für eine bessere, sagen wir lieber, eine gute Welt zu denken. Sie ist das Firmkind meiner Frau Andrea, und ich fühle mich wie ein Großvater, der seiner Enkelin etwas mitgeben will, was auch sie von ihm haben möchte: Eine Erzählung über sein Leben und über das, was war und das, was bleibt. Ich weiß, dass sie mir gerne wie einem Großvater zuhören wird!

      Am Beginn der Erzählung steht das Trauma des Krieges und der Verlust des Vaters. In der kargen, aber glücklichen Kindheit hat sich mein ethisches Gewissen und die Gerechtigkeit als sein Leitmotiv entfaltet. Das werdende Ich verdankt der humanistischen Bildung bei den Piaristen viel Nährboden für ein ganzes Leben. Die Versöhnung zwischen den Todfeinden von gestern erlebte ich als Fünfzehnjähriger in der Bretagne; sie hat mich zum Europäer auf Lebenszeit gemacht. Die taumelnden Jahre in Nord- und Südamerika bauten mir den idealen Werkzeugkasten für die berufliche Laufbahn in Europa; deren größte Herausforderung war wohl, was ich den Felsen des Sisyphos taufte. Nach meiner vergeblichen Mühe durfte ich Jahre später erleben, dass diese Fron den steilen Weg zum Gipfel für andere mutige Helden geebnet hatte. Die Tätigkeit für das Fürstenhaus und die Finanzwirtschaft des Nachbarlandes Liechtenstein wurde gekrönt vom Geist der Academy und belohnt vom erfolgreichen Abenteuer der CapitalLeben und einer geglückten Metamorphose des Fürstentums.

      Aber die wahre Wirklichkeit meines Lebens war nicht das materielle, sondern das geistige Streben. Von diesen Früchten des Denkens sind manche Zwischentöne nachgeklungen. Der wohl nachhaltigste davon ist die holde Kunst geblieben. Meine lebenslange Bemühung, das große Geheimnis von Mensch und Kosmos zu verstehen, hat auch grundlegende Fragestellungen der Theorie von Allem und des wachsenden Denkbaums betroffen. Die Zukunft unseres Planeten und die Herausforderung einer Gesellschaft, deren demokratische Spielregeln gefährdet sind, kommen mir mitten in der dramatischen Erderwärmung vor wie die Spitze eines Eisbergs. Werden wir als nutzlose Wesen enden und unsere Freiheit an die Eigentümer der seelenlosen Intelligenz und Herrscher über die Algorithmen verlieren? Wie werden der Mensch und die Erde diese Eruption evolutionärer Kraft bewältigen? Das ist eine Grundfrage, ob und in welcher Form der Mensch überleben wird. Erleben wir ein ganz anderes Ende der Geschichte, als es vor Jahrzehnten gemeint war?

      Gerade als ich dieses Buch abschließe, trifft die Menschheit eine Pandemie, die auch unser ausgewiesener Fortschritt nicht oder noch nicht zu meistern weiß, ohne dass gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen bis zum Zerreißen beansprucht werden. Noch wissen wir nicht, wie eine „soziale Distanzierung“ und eine gegenseitige Abschottung letztendlich wirken und welche Folgen daraus entstehen werden. Und wir alle wurden plötzlich Eingeschlossene, zurückgeworfen auf uns selbst und das Internet. Der Schatten des „Schwarzen Schwans“ Covid-19 und dessen Folgen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lassen sich noch gar nicht wirklich ermessen. Ein anderes Ende der Geschichte? Oder eine neue Version von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit? „Ich stehe am Totenbett der Zeit“, schrieb Kraus in seinem Arbeitsprogramm für dieses Weltuntergangsdrama, welches unsere Welt allerdings schon hundert Jahre überlebt hat …

      Ich kann mich an den selbstbewussten Ausspruch eines Wissenschaftlers erinnern, den ich vor ungefähr 50 Jahren (mitten in der Ölkrise) beim Forum Alpbach hörte: Die Menschheit hat schon so viele Krisen überlebt, sie wird auch diese überstehen! So ähnlich habe ich es als einen wichtigen Grundsatz meiner „Lebenspoesie“ formuliert: Wir dürfen das Vertrauen in das Leben nicht aufgeben und müssen das Hoffen lernen! Das erstere ist das Glaubensbekenntnis der Biophilie, der Lebensliebe, die sich auf die Lebenskraft, den Eros, der Menschheit stützt. Das Erlernen der Hoffnung ist die Stütze dieses Glaubens.

      Dieses Buch soll schließlich ein Dank an alle genannten oder ungenannt gebliebenen Menschen sein, die Berge und Täler des Lebens mit mir liebend, lehrend, gebend und nehmend durchwanderten. Das gilt im Besonderen für meine Familie und alle Menschen, die mich ein Stück des Weges eng begleitet haben. Sie mögen meine Geschichte mit verständnisvoller Geduld hören.

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       KRIEG UND FRIEDEN

       WEIHNACHTEN 1943

      Als wir im letzten Frühling durch den Wald wanderten, den frühen Abend und die Stille dankbar genießend, da hast du plötzlich zu mir gesagt: Möchtest du mir nicht aus deinem Leben erzählen? Ich habe gezögert und dir geantwortet: Nicht jetzt, Constanze, aber vielleicht später. Dann, wenn ich die Zeit dazu gekommen sehe. Nun fühle ich, sie ist reif, und ich will deinen Wunsch erfüllen. Aber du weißt ja, ich rede manchmal zu viel, ich streue zu viel Spreu ins lockere Gespräch und fabuliere gerne über Gott und die Welt, wie man so sagt. Ich weiß, hast du geantwortet, aber ich möchte doch und gerne erfahren, was du erlebt hast, was du getan und wie du gedacht hast, was für dich wirklich wichtig war? So sind wir damals schweigend zurück ins Haus gegangen. Jetzt, im späten Herbst, sind die langen Abende gerade recht, um, wie Rilke so schön dichtete, lange Briefe zu schreiben – oder eben Geschichten darüber zu erzählen, was war und was bleibt. Ich will versuchen, Constanze, Erlebnisse und Gedanken im milden Licht des Abends so darzustellen, dass du sagst: Jetzt habe ich dich erst wirklich kennengelernt.

      Der Anfang ist ernst und traurig, aber er war ungeheuer wichtig für den Eintritt in die Wirklichkeit der Welt. Diese furchtbare Ur-Erinnerung im Alter von drei Jahren hat mein späteres Leben wohl mehr beeinflusst, als mir selbst heute klar ist. Es war der Weihnachtsabend 1943, als mein Vater endgültig in einen Krieg hineingestoßen wurde, den er ablehnte, ebenso wie den „Führer“, der das neue an sich zweifelnde und politisch zerrissene Österreich erst kurz davor „heim ins Reich“ geholt hatte. Er musste einrücken und sich von seiner kleinen, jungen Familie verabschieden, mit der er so glücklich war. Ich erinnere mich lebhaft, dass er nicht und nicht zum Tor hinauswollte, lieber desertieren, sich verstecken, in den Widerstand gehen wie manche Verwandte von uns. Aber meine desperate Mutter, mit zwei Kleinkindern an der Kittelfalte, brachte ihn mit einem schluchzenden Satz von seinem Vorhaben ab, den ich mein Leben lang nicht vergessen kann: Du musst gehen, sonst bringen sie uns alle um! Also ging er. Traurig, gottergeben schloss er das Haustor hinter sich. Und kam nie wieder.

      Meine Mutter hatte als Dienstmädchen in einem jüdischen Haus wenige Jahre davor erleben müssen, dass sich ihr Arbeitgeber aus Verzweiflung über den „Anschluss“ am Türstock erhängte. Und am Heiligen Abend 1943, Constanze, wurde eine unschuldige Familie ins Mark getroffen wie so viele andere und wurde eingefügt in dieses reale Bild der Hölle, die dieser „größte Feldherr aller Zeiten“ größenwahnsinnig als Höllenfürst befeuerte.

      Mein Vater schrieb jeden Tag Feldpostbriefe voll Hoffnung und Flucht


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