Jenes hügelige Sein. Hans Haumer

Jenes hügelige Sein - Hans Haumer


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aus Odessa kam Ende August 1944 und enthielt ein kurzes Gedicht über den Soldatentod. Er, der Soldat wider Willen, kam als Kriegsgefangener auf einem Vernichtungsmarsch nach Sibirien um. Wir konnten nie herausfinden, wo und wie er starb, ob er begraben wurde, wo er Ruhe fand. Noch Jahre danach ging meine Mutter, immer wenn Züge mit Heimkehrern angekündigt wurden, zum damaligen Ostbahnhof in Wien, voll des Glaubens, ihren Mann und unseren Vater wieder in die Arme schließen zu können. Sie wartete vergeblich, opferte sich für meine jüngere Schwester Maria und mich auf und war ein Vorbild der selbstlosen Nächstenliebe.

      Ich habe auch noch andere Erinnerungen an diesen Krieg. Je näher sein Ende kam, desto öfter kamen die Bomben. Wir waren immer wieder gezwungen, nach dem Alarm der Sirenen in den großen Luftschutzkeller des Wiener Rathauses zu rennen; meine Mutter mit dem Kinderwagen und meiner kleinen Schwester, ich verschreckt daneben her. Wirklich Angst hatte ich nur, als wir es einmal nicht mehr schaffen konnten und im Keller unseres Nachbarhauses eng aneinander gedrängt die Bomben ganz nahe pfeifen hörten. Und deren eine explodierte mit einem Riesenkrach. Das Gewölbe des Kellers bebte und schien einzubrechen; aber es war nur der Mörtel, der uns alle bedeckte, Gott sei Dank. Diese Bombe machte ein großes Wohnhaus ein paar Dutzend Meter von uns entfernt dem Erdboden gleich. Nach Kriegsende, auch daran erinnere ich mich noch, haben wir Kinder in diesem Trümmerhaufen gespielt. So war der Tod, so war das Leben, ganz nahe beisammen.

      Wir verstehen heute, dass dieser Krieg gewissermaßen die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges war, dessen Friedensverträge viele ungelöste Probleme, größte Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Ordnungen und fundamentale Fehler in der Friedenspolitik zu einem explosiven Cocktail mischten. Lord Keynes, der berühmte englische Ökonom, warnte schon damals vor den Economic Consequences of the Peace, den untragbar großen wirtschaftlichen Lasten, welche die Sieger den Besiegten als Kriegsschuld aufluden. Philipp Blom hat Die zerrissenen Jahre. 1918–1938 einen instabilen, temporären Waffenstillstand genannt. Ich bin kein Historiker und kann dir keine Einzelheiten schildern, Constanze. Aber erinnert wurde ich an die weltweite Aufmerksamkeit, die das Jahr 1918 fand, nicht nur wegen der Feiern zum 100. Geburtstag der Republik Österreich am 12. November (1918 offiziell noch Deutsch- Österreich), sondern auch durch die würdige Begehung des Armistice Day in Neuseeland, wo wir uns damals gerade aufhielten. Neuseeland war die englische Kolonie, welche relativ zur Gesamtbevölkerung die meisten Gefallenen unter den Kriegsparteien zu beklagen hatte. Bis heute gedenkt dieses Land von fünf Millionen Einwohnern am ANZAC Day der Landung australischer und neuseeländischer Corps in Gallipoli, dessen Heldenlegenden sich tief ins nationale Gedächtnis eingegraben haben.

      Dein Ur-Urgroßvater hieß Thompson, seine Familie war Mitte des 19. Jahrhunderts aus Irland nach Neuseeland gekommen, und er war – zumindest bevor er mich kennenlernte – den Deutschen und Österreichern gegenüber skeptisch eingestellt. Deine Großmutter hat ja Geschichte studiert, aber auch sie lernte die feinen Haarwurzeln des Ersten Weltkriegs erst im Lauf unserer Ehe richtig einschätzen. Das muss ich dir noch einmal sagen, obschon du es oft genug gehört hast – wie gekonnt und souverän sie ihre Rolle an meiner Seite gemeistert hat! Ihre Kenntnisse der europäischen politischen Geschichte sind sehr ausgewogen zwischen der Erziehung in ihrer angestammten und der Erfahrung in ihrer eingelebten Heimat. Wenn du mehr darüber wissen willst, wie diese Wurzeln des Krieges zu bewerten sind, so kannst du im Buch The Sleepwalkers von Christopher Clark eine großartige und spannende Analyse finden.

      Meinen Vater kenne ich nur als eine schwankende Gestalt meiner Gefühle aus frühester Kindheit. Aber von all den Erlebnissen als kleiner Knabe mit ihm, die ich aus Erzählungen meiner Mutter kenne, möchte ich dir eines schildern: Meine Mutter hatte den zweijährigen Hansi zum Spaziergang mit dem Vati schön sauber herausgeputzt. Als wir wieder nach Hause kamen, war sie entsetzt. „Wie schaut denn der Bub aus?! Voll bespritzt mit Schlamm!“ Mein Vater antwortete ruhig: „Er wollte in der Pfütze im Park spielen und hat sich so gefreut, ich konnte ihm das nicht verbieten …“ Das sagt über den Charakter meines Vaters sehr viel aus, denke ich. Und ich stellte mir immer wieder vor, was geworden wäre, wenn ihn der Krieg verschont hätte. Aber ich denke auch an die Abermillionen Familien, denen es so oder noch schlimmer ergangen ist als uns. Und wenn ich dann den Sprung in die Gegenwart mache und bedenke, wie viel Krieg und Gewalt seither und bis heute in der Welt passiert ist und gerade passiert, dann – ja, es klingt krass – schäme ich mich fremd für die Menschheit. Sind die Menschen so schlecht, so dumm, so egoistisch, so gedankenlos, ich könnte mit dieser Suada an Schuldzuweisungen an unsere Art fortfahren, dass es ohne Krieg nicht geht!? Dass gar der Krieg als Mutter des Fortschritts oder kalte Dusche gegen die Hybris, wenn nicht geliebt, so im Prinzip doch geduldet werden kann? Oder gar als Mittel der Natur, ein Ungleichgewicht in der Welt zu beheben und einen Neuanfang zu erzwingen? Das sind krause Gedanken eines vorbehaltlosen Pazifisten, der ich durch den erlebten und erlittenen Krieg geworden bin. Glücklich und dankbar bin ich dafür, mehr als siebzig Jahre Frieden in Europa genossen zu haben. Aber deiner Generation muss man in Erinnerung rufen, Constanze, was ein Krieg hautnah bedeutet, damit auch ihr den Frieden schätzen lernt und bereit seid, ihn zu schützen und um ihn zu ringen um jeden Preis!

      Was ich dir über den Krieg erzählt habe, hat mich für das ganze Leben eingestimmt. Dieses frühe Erlebnis des Krieges und sein gesamtes Umfeld kann man vielleicht den Kammerton nennen, nach dem sich die orchestrierte Stimmung meines Lebens richtete. Ich war ab da ein Gegner von Krieg und Gewalt; ich sah, was dieser Krieg meiner Mutter abverlangte, die viele Jahre lang hoffte und betete, dass unser geliebter Vater doch noch am Leben wäre. Ich glaube auch, dass ich damals eine Art innere Rüstung anlegte, um mich selbst zu schützen, aber auch, um andere besser zu verteidigen. Vielleicht habe ich auch geahnt, dass ein solches Trauma der Kindheit einen abwehrenden Panzer braucht, will man nicht lebenslang verletzt und verletzbar bleiben. Mit dieser harten Schale ist auch die Abscheu vor der großen Ungerechtigkeit dieses Krieges mitgewachsen. Und damit wohl auch das Empfinden für Gerechtigkeit entstanden, das für mich ein wichtiger Wegweiser geworden ist. Die Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung, der gerechten Gesinnung hat mich durch jenes hügelige Sein des Lebens geleitet. Die lebenslange Suche nach dem Wesentlichen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit wurde mein charakterlicher Leitstern.

       CHOR DER ENGEL

      Mein erstes Weihnachtsgeschenk im Jahr 1945 war ein Bauernhof, von meinem Onkel Martin aus einer kleinen Holzkiste gebaut, mit ein paar grob geschnitzten Tieren drinnen. Mit denen habe ich stundenlang spielen und reden können. Onkel Martin war der Lieblingsbruder meiner Mutter, die ihm von ihrem kargen Lohn erspartes Geld geliehen hatte, damit er seine erste Maschine kaufen konnte. Er war gelernter Wagner, also Wagenbauer. Er und seine Frau Kathi, meine Taufpatin, waren auch meine Ferieneltern. Mit den vier Hillingerbuben gab es in den heißen Sommern von Jois, dem Heimatort meiner Mutter, manche wilde Wasserschlacht und riskante Spiele. Im Sommer 1946 fiel ich bei einer solchen Mutprobe von einem Flachdach mehrere Meter auf den harten Boden und war stundenlang bewusstlos. Meine Mutter muss ausgeflippt sein, und mein Onkel hatte Mühe, sie zu beruhigen. Erst der Vater, dann der kleine Sohn … nicht auszudenken!

      Dieses Erleben hat sich mir plastisch eingeprägt. Ich hätte damals sterben können, wäre ich nicht mit dem Kopf in meine linke Hand gefallen, die mir wahrscheinlich das Leben rettete und dabei zu Bruch ging. Von der mühsamen holprigen Fahrt in einem offenen Dreiradauto ins Wiener Allgemeine Krankenhaus weiß ich nur noch wenig. Aber die schwache Narkose und der Holzhammer des Arztes zum Einrichten der Knochen sind mir noch in Erinnerung. Manchmal kann doch die Hand wichtiger sein als der Kopf, der sie hätte lenken sollen! Alle sprachen vom Schutzengel, der mich bewacht haben musste. Ich selbst dachte das wohl auch, und mir war dieser Unfall eine Lehre fürs Leben.

      Dann kam ich in die Volksschule der Piaristen in der Josefstadt und hatte die ersten zwei Jahre eine wunderbare Lehrerin. Du kannst in meiner Stimme hören, Constanze, wie ich das heute noch spüre. Sie verdrängte die Kälte des Winters ohne Heizmaterial mit ihrer Herzenswärme und brachte uns auch das Lesen und Schreiben so bei, dass es keine Qual, sondern Freude am Lernen war. Nach diesem furchtbaren Krieg, in den ersten Nachkriegsjahren, mangelte es an allem. Aber die Menschen machten damals durch Zusammenstehen und Hilfsbereitschaft die materielle Not wett, soweit es möglich war. Und ich habe auch


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