Jenes hügelige Sein. Hans Haumer

Jenes hügelige Sein - Hans Haumer


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schönere Muschel oder einen glatteren Kiesel findet, „… aber der große Ozean der Wahrheit liegt noch unentdeckt vor mir“, schrieb er. Und Sokrates’ Spruch, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, kennt bei uns jedes Kind. Diese Dualität von Demut vor dem Wissen und von Respekt auch vor dem Nichtwissen sollten wir uns aneignen! Ich werde dir sicher noch vom Tao erzählen, das viel zum Verstehen von Gegensätzen beitragen kann. Soll ich dir Gusto darauf machen? Warte ab. Warum Wasser härter als Stein sein kann, das ist die Frage!

      Wenn wir nunmehr wieder in unsere irdische Wirklichkeit eintauchen, so nimmt auch die Gerechtigkeit menschliche Züge an. Die Gerechtigkeit, von der man so respektvoll als platonische Idee der Seele spricht, ist in der Realität vergleichbar mit einem Gefäß, in dem der reine Wein der Gerechtigkeit mit dem Wasser des Lebens verdünnt wird. Probieren wir das an einem wichtigen politischen Begriff aus: Was ist soziale Gerechtigkeit? Oft wird darunter nur die Verteilung von materiellen Gütern zwischen Arm und Reich verstanden, was natürlich zu simpel ist. Was ist mit der ungleichen Verteilung der Gene und Begabungen, der unterschiedlichen Geburtsorte und Familienherkunft, der empfangenen Liebe und Zuwendung in der Kindheit, ganz allgemein der Lebenschancen, wie das Ralf Dahrendorf nannte? Er, den ich während meines Postgraduate-Jahres in Tübingen als jungen Professor kennenlernen konnte, sah mehr Lebenschancen für möglichst viele Menschen als Ideal einer liberalen und demokratischen Politik und Gesellschaft an. Chancengleichheit ist ein politisches Ziel, das breite Zustimmung finden kann. Aber wie viel Wein, wie viel Wasser definiert diese Gleichheit von Möglichkeiten für jeden? Noch weniger einig ist man sich darüber, wie solidarische, die ungleichen Startchancen mildernde Eingriffe ausschauen sollen. Hier meldet sich wieder das Eigeninteresse der Bevorzugten, da sitzt wieder der Teufel im Detail und freut sich am Streit um mehr finanzielle Zuschüsse oder den leichteren Zugang zu mehr Bildung. Und da rede ich nur von den so genannten entwickelten Ländern, wo man bereits ein halbwegs funktionierendes Bildungssystem und ein geknüpftes soziales Netz vorfindet, das Schwächere grundsätzlich auffängt. Mit Lebens- und vor allem Bildungschancen sind wir der Suche nach wahrer sozialer Gerechtigkeit schon nähergekommen, aber eine klare begriffliche Bestimmung dieses Wieselworts entgleitet mir. Zum Beispiel hatte ich einen Start ins Leben, Constanze, der zwar auf den ersten Blick nicht günstig war; aber gerade deswegen gute Lebenschancen, weil alle Muskeln und Sehnen des Lebendigen in mir frühzeitig trainiert wurden! Gibt es so etwas wie eine gerechte Gesellschaft, einen gerechten Staat, eine gerechte Politik überhaupt? Das ist eine spannende Frage und verdient eine kurze Erörterung.

       GERECHTE POLITIK?

      Vor rund zweieinhalbtausend Jahren hat der Denker und Lehrer Platon mit Der Staat (Politeia) einen philosophischen Markstein gesetzt; im Untertitel heißt diese Schrift Über das Gerechte. Es lohnt sich, über ihre vielleicht bekannteste Aussage zur politischen Gerechtigkeit nachzudenken: Die Könige sollten Philosophen oder die Philosophen sollten Könige sein, damit der Staat gerecht und daher gut regiert werde. Du fragst mich natürlich zurecht, Constanze, wieso die Regierenden oder im weiteren Sinn die führenden Eliten gerade den esoterischen Touch der Philosophen haben sollten? Wären da nicht ganz andere Eigenschaften notwendig, um ein Staatswesen gut zu lenken oder wichtige gesellschaftliche Aufgaben erfolgreich zu erfüllen? Nun, Platon meint, nur die Philosophen könnten die Wahrheit finden, weil das ja ihre Berufung sei, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und die Wahrheit sei die Mutter der Gerechtigkeit, sie solle das Szepter der Macht in Händen halten. Ist diese Vorstellung nicht total weltfremd, wirst du fragen? Ja, in der bisherigen Geschichte der Menschheit schon, denn die große Welt und ihre vielen kleinen Abbilder und Probebühnen in unser aller Leben werden von Streit um Macht und Besitz entstellt.

      Der klarste Widerspruch zu dieser Meinung Platons kommt von einem ebenso großen Geist, denke ich, nämlich Immanuel Kant. Macht, schreibt er, würde die Vernunft stören, sie also nicht mehr rein sein lassen. Daher wäre es gar nicht wünschenswert, wenn Könige auch die Gerechtigkeit und Wahrheit als Philosophen kontrollierten. Sehr weitblickende Gedanken aus Kants Essay Zum ewigen Frieden! Darum greifen Tyrannen ja seit eh und je ungeniert nach der Macht über die Meinung! Wir können das heute in Amerika deutlich sehen, wo die Fake News eine Fake Reality zu schaffen trachten und damit ziemlich erfolgreich waren und sind. Der Hauptdarsteller Trump hat seit Amtsantritt in steigendem Ausmaß gelogen und bis Mitte 2020 viele tausende Fehl- und Falschaussagen auf dem Gewissen. Autokratenlehrlinge wollen auf dem Weg zur Herrschaft die im Weg stehende Wahrheit kontrollieren.

      Nach langem Zögern wurde es den Demokraten zu viel, und sie leiteten das Impeachment des Präsidenten ein, das Amtsenthebungsverfahren zum Schutz der Verfassung gegen undemokratische Akte des Präsidenten. Die zwei formellen Anklagepunkte der demokratischen Mehrheitspartei im Repräsentantenhaus waren: Erpressung einer ausländischen Macht (Ukraine) zur Schädigung eines politischen Konkurrenten (Joe Biden) sowie bewusste Missachtung von Beschlüssen des Kongresses. Das „Vorspiel“ dazu war die Untersuchung einer möglichen russischen Beeinflussung der Präsidentenwahlen 2016. Der Special Counsel Robert F. Mueller III. deckte die unglaublichsten Vorkommnisse von kriminellen Attacken gegen Recht und Staat auf, die nach gängiger Rechtsauffassung Hochverrat wären. Aber dem geübten Entfesselungskünstler gelang es, die Anschuldigungen zu verkehren, seine Anhänger zu betören und seine Ankläger zu verstören. Der Versuch, den Präsidenten abzusetzen, scheiterte knapp an der starken Hand des Senatspräsidenten und dem biegsamen Gewissen der republikanischen Senatoren – mit Ausnahme des Mormonen Mitt Romney. Er hatte zur Jahreswende 2018/19 einen Beitrag in der New York Times verfasst, in dem er konstatierte, Trump „has not risen to the mantle of the office“, er sei der Würde dieses Amtes nicht gewachsen. Und stimmte als einziger Republikaner für das Impeachment.

      Manchmal gewinnt man aus dieser Entwicklung den Eindruck, Constanze, Trump möchte es Putin gleichtun und Herrscher auf immer als Begründer einer Dynastie sein. Wir können nur darauf hoffen, dass Mitch McConnell – der die Einvernahme von Zeugen in der Verhandlung über die Amtsenthebung verhinderte und diese zur Farce degradierte – seine Mehrheit von Mitläufern verliert.

      Glücklicherweise gibt es in diesem ideell gespaltenen Land auch freie und mutige Medien, die sich dieser Entwicklung beharrlich entgegenstemmen, auch wenn sie noch so oft als Feinde der Demokratie (!) beschimpft werden. Auf ihnen lastete es, das Impeachment so darzustellen, wie es wirklich war, worum es da tatsächlich ging: um die Grundfesten des politischen Hauses Amerika, um seine Verfassung und deren zentrale Frage nach der Sicherung des Rechtsstaats vor den Übergriffen der Macht. Der französische Historiker Alexis de Tocqueville bereiste Anfang des 19. Jahrhundert die junge Republik der 25 noch nicht vereinigten Staaten. Seine Studie Über die Demokratie in Amerika ist eine weit vorausblickende Beurteilung der Gefahren, welche die Demokratie bedrohen; aber auch Beschreibung der vorbildlichen von Bürgern getragenen privaten Initiativen als Urbild der modernen Zivilgesellschaft. Gar herrlich weit hat es das große Vorbild gebracht!

      Die neuseeländische Zeitschrift Listener zeigte auf ihrem Titelblatt Anfang 2019 das Bild Donald Trumps als Westernheld mit dem im Wilden Westen seinerzeit gebräuchlichen Fahndungsplakat und der Aufschrift: WANTED for Crimes against Democracy. Wie kann ein Land wie Amerika von einem „narzisstischen Psychopathen“ – so der Befund einschlägig tätiger amerikanischer Ärzte – derartig in Geiselhaft genommen werden und zulassen, dass aus der Führungsmacht des Westens ein großes Sorgenkind der einst von ihr Behüteten wurde? Und viele Amerikaner selbst sagen Schlimmeres, da ist Lachnummer noch schmeichelhaft.

      Apropos Lachnummer. Die amerikanischen Politshows haben mit zahlreichen Veräppelungen Trumps ihre Zuschauer zu schallendem Gelächter gebracht. Ich hätte eine für intellektuelle Musikfreunde parat. Das interessiert dich? Dann gebe ich dir eine Variante der Wirtshausszene im 3. Akt des Rosenkavalier von Richard Strauss mit dem wunderbaren Text Hugo von Hofmannsthals zum Besten: Der als Mariandl verkleidete Oktavian hat eine grobe Störung des Schäferstündchens ausgeheckt, das sich der Ochs auf Lerchenau mit „ihr“ erwartet. Unter grellen Dissonanzen, die plötzlich in die lyrische Melodik der Musik hereinbrechen, erscheinen aus Fenstern und Vorhängen (in der Jahrhundert-Inszenierung unseres genialen Otto Schenk) Fratzen und Masken. (Donald) Ochs muss schließlich die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Das Mariandl (Pelosi) hat


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