Jenes hügelige Sein. Hans Haumer
danach wurde ich Ministrant bei den Patres Piaristen in der Pfarre Maria Treu, worauf ich sehr stolz war und die Togen der Fakulanten (Fackelträger) ganz besonders schick fand. Ich hatte eine schöne Altstimme und sang als Josef mit einem anderen Buben als Maria die vorweihnachtliche Herbergsuche im Duett: „Wer klopfet an? Oh zwei gar arme Leut’! Was wollt ihr dann? So gebt uns Herberg heut’ … Geht fort von hier!“ Bis heute mahnt die Ablehnung der Wirte mein Gewissen, Constanze. Dann sangen wir die schönen alten Kirchenlieder zur Adventzeit, die mächtig klangvollen der Auferstehung in der Osternacht, die ergreifenden Marienlieder zur Maiandacht. Und immer wieder Gregorianischen Choral, der wegen seiner mystischen Charismatik heute eine Renaissance erlebt.
Den Gregorianischen Choral hat mir auch nahegebracht, was wir als kleine Ministranten im Stift Heiligenkreuz erlebt haben. Dorthin durften wir als Belohnung zwischen Weihnachten und Neujahr fahren und das Klosterleben, aber auch das Balgen und Spielen in der winterlichen Natur genießen. Ich erinnere mich, wie wir um 6 Uhr morgens in der kalten Kirche den Mönchen beim Singen zuhörten. Sie begannen schon damals – ich glaube, der Abt hieß Albrecht – wieder mit dieser Tradition, die Heiligenkreuz Jahrzehnte später weltberühmt machte. Wir taten das unter dem aufmerksamen Ohr unseres Präfekten Hans Smejkal, der uns als geprüfter Organist einige musikalische Details der Kirchentonarten und der Geschichte der mehr als tausend Jahre alten römischen schola cantorum erzählte. Ich war als neunjähriger Bub damals vielleicht der Meinung, einer dieser Knaben zu sein, die den Chor der Engel auf Erden bildeten.
Eines Tages hat mich ein älterer Bub in eine Chorprobe mitgenommen, die Hans Gillesberger mit der Wiener Kantorei hielt. Ich sollte dem schon damals bekannten Chorleiter etwas vorsingen und tat das auch mit einem Lied, das ich in der Schule gelernt hatte: „Ich ging durch einen grasgrünen Wald und hörte die Vögelein singen …“ So nahm mich Gillesberger als Altstimme in den damals berühmten gemischten Chor auf. Wir probten die Matthäuspassion von J. S. Bach, heute Weltkulturerbe der UNESCO. Die ergreifende Aufführung und das Singen dieser zeitlosen Choräle in einer großen Kirche hat mir die Liebe zur Musik eingepflanzt.
Um die gleiche Zeit hat mir Hans Smejkal den ersten Klavierunterricht gegeben. Ihm verdanke ich sehr viel an Vaterersatz und Zuwendung in dieser Phase der Kindheit, die den Erwachsenen prägt. Er war überaus musikalisch, hatte eine herrliche Baritonstimme und war ein fantastischer Improvisator auf der „Brucknerorgel“ der Kirche. Die barocke Orgel hat diesen Spitznamen deshalb, weil der große Anton Bruckner hier seine Meisterprüfung im Orgelspiel ablegte. Einer der Prüfer sagte nach dieser offenbar fantastischen Meisterleistung Bruckners: „Nicht wir hätten ihn, er hätte uns prüfen sollen!“ Diese Orgel habe ich dann oft mit meinem Musiklehrer stimmen (und auch ein wenig spielen) dürfen.
Als universale Sprache des Gefühls wirkt die Musik wie gute Medizin, Constanze, sie hat keine negativen Nebenwirkungen, reinigt und beflügelt, verzaubert und erschüttert, zerstört das Böse und hilft dem Guten. Im Musikzimmer meines Gymnasiums hing an der Wand der alte Spruch: Wer nicht Musik hat in ihm selbst, taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken. Nun, das ist nur zum Teil richtig, denke ich. Der Umkehrschluss stimmt nicht unbedingt. Denn auch im Konzentrationslager mussten todgeweihte Häftlinge, die Musiker waren, musikliebende Aufseher unterhalten, aber abhalten von ihren Verbrechen konnten sie sie nicht. Viele auf der Welt können bis heute nicht verstehen, wie Musik von Engeln mit Mord der Teufel zusammengeht!
Ja, Constanze, ich war ein Träumer (so nannte mich manchmal meine Mutter als Kind liebevoll-kritisch) mit künstlerischen Neigungen, aber auch wach genug für das praktische Leben. Von der Musik wusstest du ja längst. Manche meinten, auch ich selbst eine kurze Weile lang, mich eines Tages als Musiker auf einer Bühne zu sehen. Ich erkannte aber bald die Grenzen meiner Begabung und blieb doch lieber Amateur, einer, der sich aus reiner Liebe zur Musik an ihr laben kann, ohne von ihr leben zu müssen.
SCHILLERNDE GERECHTIGKEIT
Die Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung und der gerechten Gesinnung hat mich ein Leben lang geführt und begleitet. Gerechtigkeit ist ein gedankliches Gebirge, Constanze, an dem sich der Mensch seit je die Hirnzähne ausbeißt. Es ist kaum jemandem gelungen, dieses Scheidewasser unseres inneren Kompasses ohne Anleihe bei den Überirdischen zu erklären. Objektive Gerechtigkeit bräuchte einen unverrückbaren Bezugspunkt, den wir Idee der Gerechtigkeit nennen könnten. Eine lange Reihe großer Geister rang und ringt seit tausenden Jahren mit dieser notgedrungen abstrakten Idee. Die Ergebnisse dieses Nachdenkens sind schwierig zu verstehende Lehrsätze, die auf Annahmen beruhen, etwa Gerechtigkeit sei „im Prinzip“ Gleichheit.
Das berühmteste moderne wissenschaftliche Werk über Gerechtigkeit hat der Amerikaner John Rawls 1971 veröffentlicht. Seine Theory of Justice vertritt zwei Konzepte der Gerechtigkeit als Fairness eines sozialen Systems. Du wirst gleich sehen, Constanze, wie theoretisch das klingt. Das erste: Jeder soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verträglich ist. Erinnert ein bisschen an Kants Kategorischen Imperativ vom individuellen Verhalten, das zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Das zweite: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie nach vernünftiger Annahme zu jedermanns Vorteil dienen und sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. Soviel zur Idee der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Ein wenig schwer zu verdauen, nicht?
Die Realität der Gerechtigkeit sieht ganz anders aus. Eine Vielheit von subjektiven Gerechtigkeiten mit ihren beliebigen Bezugspunkten sucht nach dem gesellschaftlichen Kompromiss im Dialog oder nimmt den Kampf auf. Wenn es um einen großen gerechten Wert wie Freiheit geht, dann kennen wir aus der Geschichte und bis heute die Bereitschaft der Menschen, dafür sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Proteste gegen politische Unterdrückung in Russland, Hong Kong, Venezuela oder im Iran sind aktuelle Beispiele dafür.
Eine endgültige Belohnung in der göttlichen, überirdischen Gerechtigkeit zu suchen und auf die Bestrafung der Ungerechten dieser Welt zu hoffen, das war immer wieder auch Zuflucht und Trost für jene, die mit der irdischen Ungerechtigkeit anders nicht zu Rande kommen konnten. Ist aber Gott selbst gerecht? Wie sollte diese Gerechtigkeit einer höheren Ordnung denn aussehen?
Die Theologen nennen die Frage von Gottes Gerechtigkeit mit dem griechischen Namen Theodizee (theodikía). Wie kann ein barmherziger, guter Gott unbarmherzig so viel Übel in der Welt zulassen? Ich habe die Antwort von Kardinal Schönborn auf diese Frage gehört und nur in Erinnerung, dass auch er als ausgewiesener Theologe keine für Laien schlüssige Antwort geben konnte. Der Mensch hat von Gott, folgt man den Schriften, den freien Willen zum Widerstand auch gegen ihn, Gott selbst, erhalten, also auch die Fähigkeit und Bereitschaft zum Bösen. Und warum lässt Gott die Menschheit gewähren für die kaum erheblichen Bruchteile von Sekunden ihrer Existenz im an Ewigkeiten gemessenen Zeitmaß des Universums, stellt sie ständig auf die Probe, bleibt der „unbewegte Beweger“, wie schon Aristoteles ihn nannte? Die Antwort der Religionen ist überall ähnlich. Bei den alten Ägyptern etwa das Totengericht, ein überirdischer, gerechter, unanfechtbarer Richtspruch über Gut oder Böse, ewiges Licht oder ewige Finsternis für die unsterblichen Seelen der Verstorbenen. Ich meine, dass dieses von Menschen entworfene Gottesbild uns Trost zu Lebzeiten spenden soll. Ob der Gott aller Universen uns wirklich während unserer flüchtigen Existenz im Kosmos ernst nimmt?
Man sieht, Constanze, wie der Mensch mit seinem Denken an die Tür von Geheimnissen klopfen kann, die sich vielleicht sogar öffnet. Aber sicher wartet dahinter eine weitere und noch eine und wieder eine, was ihn in diesem kafkaesken Schloss ziellos herumirren lässt. Wir werden noch mehr solcher Mysterien zu knacken haben, aber wahrscheinlich an den vielen Türen scheitern, die sie vor ihrer Entdeckung schützen.
Es gibt eine Mysterianismus genannte Schule der Philosophie, welche die Grenzen unseres Geistes zum Maß vieler Dinge macht. Nach dieser Denkschule werden sich manche Rätsel der Natur möglicherweise für immer jenseits unseres lösungshungrigen Verstandes verbergen. Der Mensch ist einfach nicht gescheit genug, er ist ein Produkt der Evolution, und das allein beweist: Es gibt auch eine höhere Stufe der Intelligenz als die des Menschen! Die größten Wissenschaftler