Jenes hügelige Sein. Hans Haumer

Jenes hügelige Sein - Hans Haumer


Скачать книгу
Sagen aus. Auch in den Kriegen unserer Epoche gab es Helden, gute wie böse. Wenn an einem Krieg überhaupt etwas Gutes sein kann!

      Ich glaube an das Gute im Menschen, Constanze, den überwiegenden Hang dazu in den meisten Menschen, den Ansatz zum Guten in fast allen. Mein Menschenbild ist positiv geblieben, trotz aller Attacken, die es aushalten musste. Alle Menschen haben meiner Meinung nach einen Funken des Guten in sich, der angefacht werden kann, am besten durch Vorleben.

      Wir haben jetzt ausführlich und doch nicht intensiv genug über eine Kernfrage der Ethik gesprochen, Constanze. Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, das Streben nach dem Guten in uns, ich halte das für wichtige Gedanken. Aber was nützen die besten Gedanken, wenn sie nicht zur Tat werden! Die schillernden Werte von wahr, gerecht und gut müssen nicht nur erkannt, sie müssen gelebt werden! Da werden wir nicht nur persönliche Erfolgsgeschichten erfahren, sondern auch Niederlagen und Enttäuschungen. Davon hat es auch in meinem Leben einige gegeben. Aber ich denke, du möchtest noch ein wenig mehr aus meiner Schulzeit hören. Einmal hast du mich schon gefragt, warum ich so gerne lese?

       LOGIK DES HERZENS

      Meine Leselust war groß und ist es bis heute geblieben. Das fing schon in der Volksschule an, mit Karl May. Die ersten Helden des Guten, denen ich mit sieben oder acht begegnete, waren Winnetou und Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi (das war doch die arabische Version seines Namens, der deutsche Karl, nicht wahr?) und sein Begleiter Hadschi Halef Omar, den Kara Ben Nemsi letztendlich zum Christentum bekehrt, wie dann auch den sterbenden Winnetou. Ich kletterte langsam die Bücherleiter hinauf und entdeckte ständig Neues.

      Schon in der ersten Klasse Gymnasium lehrte uns Richard Bamberger die Liebe zum Lesen. Er war unser Deutschprofessor, nebenbei Generalsekretär des Buchclubs der Jugend, und schleppte jeden Samstag einen Stoß Bücher in die Klasse, hinter dem der kleinwüchsige Mann fast verschwand. Wir sollten sie nach Gusto lesen und bei der Rückgabe in wenigen Sätzen den Inhalt zusammenfassen. So brachte er uns die Bücher als unsere Freunde nahe und machte viele von uns zu Leseratten, wie man damals sagte. Es gab ja weder Fernsehen noch Facebook, wir konnten nicht googeln, sondern bestenfalls im Lexikon nachlesen. Die Küche des Wissens war immer noch in erster Linie unser eigenes Gedächtnis, nicht das Blättern im iPhone. Bis heute bin ich dem Motto treu, Reads statt Tweets, wenn man es so salopp sagen kann. Oh, du sollst jetzt nicht glauben, dass ich gegen dein Handy oder meinen Laptop antrete! Ich meine nur, dass man heute viel Kraft braucht, um sich das eigenständige Denken zu bewahren und die notwendige Zeit zum Nachdenken nicht stehlen zu lassen. In der Ruhe liegt die Kraft, das ist eine der östlichen Weisheiten, die ich verinnerlichte und bis heute zu beachten versuche. In das Denken Ruhe zu bringen, ist ein wichtiger Beitrag zur Kraft, die du zum Leben brauchst!

      Der Reichtum im geschriebenen Wort der Weltliteratur ist unerschöpflich, und in einem Menschenleben ist nur Zeit für einen kleinen Schritt auf der Suche nach immer neuen Schätzen. Was die Kunst der Worte vermitteln kann, ist nicht nur Wissen. Es ist Gefühl, individuelle Gefühlslogik. Das ist nicht die strenge Logik eines Aristoteles oder eines Wittgenstein. Es ist eine, die runder und weiter ist als die des Verstandes und der Vernunft. Es ist eine Logik des Herzens. Von Blaise Pascal stammt der Satz: „Le coeur a des raisons que la raison ne connait point.“ Man kann das nicht so wortspielerisch übersetzen, wie es im Original klingt, aber du verstehst: Das Herz hat Gründe, welche die Vernunft nicht kennt. Jetzt betreten wir den Tempel der Gefühle, Constanze, und verharren zunächst in schweigender Nachdenklichkeit.

      Es gibt außergewöhnliche Destillate des menschlichen Geistes, die mehr noch als Wissen und Weisheit enthalten. Einer der großen Sätze der menschlichen Kultur ist dieser:

       Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer

      und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht,

       je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit

       beschäftigt. Der bestirnte Himmel über mir und das

       moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir

       und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein

      meiner Existenz.

      Geschrieben hat dies einer der großen Denker der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant als die summa seiner Kritik der praktischen Vernunft. Um wirklich zu wissen, was ein tiefer Blick in den bestirnten Himmel im Innersten bedeuten und auch bewegen kann, solltest du einmal in einer sternklaren Nacht den Himmel betrachten und dich hinaustragen lassen in die unendliche Ewigkeit des Universums – und dabei das eigene Herz schlagen hören. Ich habe dieses Gefühl einer gewaltigen überirdischen Ordnung, eines Kosmos, der die Welt des Ich mit dem Universum verknüpft, in einer Winternacht in den Bergen empfunden. Damals war ich noch etwas jünger als du heute, scheu verliebt in ein Mädchen unserer Gruppe von Schisportlern, also richtig eingestimmt auf große Gefühle. Die unvorstellbare Ferne der Milchstraße ist mir bewusst geworden, aber ich kann sie bis heute nicht begreifen, nur bewundern. Dabei ist unsere Galaxie nur eine von unendlich vielen! Heute sagen uns die Astronomen, sie wüssten nicht genau, wie viel Sternlein am Himmelszelt stehen. In unserer benachbarten Galaxie, der Milchstraße, sind es schätzungsweise um die 200 Milliarden. Im ganzen Universum möglicherweise 10 Trilliarden (als Mathematikerin wird dir 10 hoch 22 mehr sagen), die in geschätzten tausend oder mehr Milliarden von Galaxien verteilt strahlten und strahlen. Und das wissen wir Menschen oder ahnen es, und können wieder nur staunen und staunen und wieder staunen über dieses Geheimnis des Menschen auf der winzigen Erde inmitten dieser riesigen noch kaum erforschten Unendlichkeit?!

      Hast du übrigens gewusst, dass die Überlegungen Kants schon in den Upanischaden (den gehörten Überlieferungen) des alten Indien Eckpunkte des Welt- und Menschenbildes waren? Die höchste Wirklichkeit des Universums, der Urgrund von allem (Brahman) und das Innerste des Menschen, die ewige Seele (Atman), hingen engstens zusammen als Weltgeist und Selbst. Und auch die alten Chinesen kannten mit der aus Tibet kommenden Idee des Tao den Weg (des Lebens), der gleichzeitig das Ziel ist. Gemeinsam mit dem Konfuzianismus, dessen Tugendlehre jener der Griechen ähnelt, formte der Taoismus über Jahrtausende die asiatische Seele mit ihrer Passivität und Gelassenheit gegenüber der Welt, die wir heute meist mit den Lehren Buddhas verbinden. Aber auch das ändert sich, wenn wir das moderne Asien betrachten. Auch dort werden alte Traditionen genau wie bei uns von der modernen Zivilisation ab- und allmählich aufgelöst.

      Die Idee der Weltseele erlebt eine erstaunliche Wiederkehr, wie Eduard Kaeser in einem kleinen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung ausführt. Er sieht die Ursache dafür in einem wachsenden Bedürfnis nach metaphysischem Trost; da kann ich ihm nur beipflichten. Neu ist das ja nicht, denk an die jahrtausendealten Religionen, die sich alle in verschiedenen Bildern mit diesem Urwunsch des Menschen nach sicherem Wissen und Geborgenheit, gerne würde ich hinzufügen nach Weltvertrauen, sehnen. Jetzt entdeckt man den Panpsychismus: Seele ist überall. So wie der Pantheismus sagt: Gott ist in allem. „Eine Welt, die von einer Seele durchwirkt und durchweht wird, spendet existenzielles Grundvertrauen, das Gefühl eines Zuhauseseins“ (Eduard Kaeser). Und was sagt Hariri dazu? Die Wissenschaft tendiert immer mehr zu einer einheitlichen Auffassung: Das Leben ist (nichts als) Datenverarbeitung. Diesen interessanten Satz werden wir später nochmals aufgreifen, Constanze.

      Die Welt begreifen heißt für mich zunächst, die persönliche innere Wirklichkeit ordnen. Ich würde noch lieber sagen: der inneren Wirklichkeit die rechte Logik des Herzens lehren. In der chinesischen Philosophie jener (von Karl Jaspers) so genannten Achsenzeit vor zweieinhalbtausend Jahren wurde die Grundfrage nach dem Ursprung des Seins mit der Rätselfrage nach dem Tao beantwortet. Die Menschen sollten einfach leben und auf das Tao vertrauen. Dieses sei der Weg und das Ziel ihrer sittlichen Vervollkommnung und gleichzeitig die Urkraft des Universums. Glück erreiche ein Mensch, wenn er sich frei macht von Ruhmsucht, Egoismus und Gewalt. Und es ist der ewige Austausch zwischen dem Licht, der gestaltenden Kraft des Yang, und dem Dunkel, der erhaltenden Macht des Yin, dem sich der Mensch fügen müsse.

      Ich


Скачать книгу