Spreewaldkohle. Franziska Steinhauer
»Guten Morgen erst mal«, brummte Nachtigall. »Wir müssen nicht nur klären, um wen es sich handelt. Spannend ist, wie er in die Schaufeln gelangen konnte. Sollte es sich um den Vermissten handeln, wissen wir, dass dieser Ort fernab aller genannten Joggingstrecken liegt.«
»Wir können sicher schnell die ersten Antworten geben. Fotos, dann Spuren und Fotos, dann die Bergung.« Peddersen gab Anweisungen, und sein Team machte sich an die Arbeit.
»Lassen Sie um Himmels willen die Helme auf!« Timothy war sehr beunruhigt. »Auch wenn es für Sie nicht so aussieht: Es ist gefährlich.«
»Yupp!« Damit war Peddersen verschwunden.
»Längere Arbeitsausfälle sind in den Abläufen nicht vorgesehen. Leichenfunde natürlich auch nicht. Ich muss mal eben mit dem Schichtleiter sprechen.« Weiler trat zur Seite und begann aufgeregt zu telefonieren.
Einige Zeit später lag der Leichnam in einer Transportvorrichtung, wurde in einen Sarg gelegt.
Klapproth und Nachtigall hatten keine Probleme, Patrick Stein zu erkennen, trotz des dunklen Staubs, des Sandes und der Erde, die an ihm hafteten.
»Er ist es, kein Zweifel.« Klapproth drehte sich zu Timothy Weiler um, der seinen Hals gereckt hatte, damit er einen Blick auf den Toten werfen konnte. »Damit ist eine unserer Fragen geklärt. Die Kollegen sind noch nicht fertig, aber wir müssen die Angehörigen informieren. Bitte geben Sie keine Informationen an die Presse oder andere Neugierige weiter. Wir sind nicht daran interessiert, dem Täter mitzuteilen, dass wir sein Opfer bereits gefunden haben.«
»Ja, logisch!«
Er ließ die beiden in seinen Jeep einsteigen, klemmte sich hinter das Lenkrad. »Hey, macht keinen Blödsinn!«, rief er Peddersen und seinen Leuten zu. »Ich bin gleich zurück.«
Wortlos brachte er die beiden Ermittler zu ihrem Wagen zurück.
Stirnrunzelnd sah er ihnen nach, kehrte dann zu der Fundstelle zurück.
»Das war doch dieser Politiker«, murmelte er, als er neben dem Fahrzeug der Spurensicherung hielt, »dieser Kohleausstiegsbefürworter. Klar doch!«
6
Nachtigall atmete tief durch, drückte dann vorsichtig auf die Klingel, als könne er so das schrille Geräusch im Haus abmildern.
Wieder würde er eine Nachricht überbringen, die Trauer, Entsetzen und Tränen über eine ganze Familie schwappte.
Maja Klapproth beobachtete sein Mienenspiel voller Interesse. Schüttelte fast unmerklich den Kopf. Ihrer Meinung nach ließ der Kollege all die beruflichen Dinge viel zu nah an sich heran. Inzwischen wusste sie allerdings, dass er das anders sah. Er nannte es »empathisches Denken«.
Sie warteten.
Wortlos.
Regungslos.
Beiden stand das Bild des Toten in der Schaufel deutlich vor Augen. Wollte so gar nicht zu der Idylle des Gartens vor der Tür passen.
Aus dem Haus war Kinderlachen zu hören.
»Nein, das ist natürlich nicht der Weihnachtsmann«, wusste die ältere der Schwestern, »der kommt doch nicht im Sommer!«
»Na und?«, gab die andere schlagfertig zurück, »Mama hat gesagt, nach Ostern beginnt die Vorweihnachtszeit!« Offensichtlich war sie nicht leicht zu beirren.
»Kinder, hört auf zu zanken. Es hat geklingelt! Macht mal die Tür auf!«, rief die Mutter aus dem Obergeschoss.
»Jaha!«, antworteten die Schwestern unisono.
»Was wollen Sie denn schon wieder hier?«, erkundigte sich die Kleine überrascht, was ihr einen rüden Stoß der großen Schwester einbrachte.
»Wir möchten mit eurer Mama sprechen. Lasst ihr uns bitte rein?«
Die Schwestern nickten unsicher.
Während die Kleine die Treppe nach oben polterte und »Mama! Mama! Das sind die beiden von gestern!«, rief, bot die Ältere den Besuchern einen Platz am Küchentisch an.
»Ich sehe mal nach, wo sie ist. Vielleicht hat sie uns nicht gehört.«
»Deine Schwester wird sie finden. Ich gehe nicht davon aus, dass sie sich vor uns versteckt.« Klapproths Ton war schroff, ihre Miene abweisend.
Über ihren Köpfen patschten Schritte durch Räume. »Mama?«
»Fällt heute die Schule aus?«, erkundigte sich Klapproth bei der Großen, die sich wieder zu den Gästen umwandte. »Wie heißt du eigentlich?«
»Das sind gleich zwei Fragen auf einmal«, stellte das Mädchen fest. »Meine Mutter meint, es sei klüger, erst die Antwort auf die erste abzuwarten, bevor man die zweite stellt. Sonst verwirrt man den Gefragten.«
»Okay, dann möchte ich zuerst deinen Namen wissen.« Altkluges Gör, dachte Maja gereizt, versuchte, sich den Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Luise. Meine Schwester heißt Paula. Und wir dürfen heute zu Hause bleiben. Mama hat in der Schule angerufen.« Luise warf einen sehnsüchtigen Blick Richtung Treppe.
»Schon gut, Luise. Das weiß Herr Nachtigall sicher schon.« Frau Stein umklammerte das Geländer, die Knöchel traten weiß hervor.
»Woher?«
»Herr Nachtigall sucht nach Papa. Ihr wisst ja, dass er nicht hier ist. Und du gehst bitte rauf zu Paula. Ihr dürft euch ein Video ansehen, es läuft schon. Und keinen Streit!«
Wütend stampfte Luise davon, maulte hörbar: »Immer, wenn es interessant wird!«
Im Blick von Doreen Stein lag ängstliche Gewissheit, gepaart mit der Hoffnung, sie könne sich irren.
»Sie haben ihn gefunden?«, erkundigte sie sich leise im Näherkommen, schwankte erkennbar.
»Ja. Heute Morgen. Es tut uns sehr leid, aber …«
Doreen hob abwehrend die Hände gegen den Sprecher. »Schon gut. Wo?«, hauchte sie.
»Im Tagebau … Er lag in der Schaufel eines Baggers, der die Erdschicht entfernt. Die Todesursache ist noch unbekannt.«
Doreen fiel auf einen der Stühle. Zitterte. Am ganzen Körper.
»In einer Schaufel? Aber dann muss mindestens eine weitere Person involviert gewesen sein. Sie glauben doch nicht, mein Mann habe sich da allein reingelegt.«
»Nein, das glauben wir nicht. Das ist auch technisch gar nicht möglich – ganz abgesehen davon, dass es unwahrscheinlich ist«, stellte Klapproth klar. »Wir gehen von einem Unfall oder einem Tötungsdelikt aus.«
Doreen nickte langsam, so vorsichtig, als habe sie Angst, der Kopf könne sich sonst vom Körper lösen.
»Wir benötigen ein paar Angaben von Ihnen, damit wir …«, begann Nachtigall, wurde von der Witwe unterbrochen.
»Ja. Natürlich. Logisch. Sie wollen sofort mit den Ermittlungen beginnen. Am besten fragen Sie im Büro nach seinen letzten beruflichen Terminen und im Parteibüro ebenfalls. Und«, sie zögerte auffällig, »bei seiner Mutter. Mag sein, dass er ihr bei seinem letzten Besuch erzählt hat, er fühle sich bedroht oder Ähnliches.«
»Wie erreichen wir seine Mutter?«
»Sie wohnt in einem Seniorenstift. Ich suche Ihnen die Nummer raus.« Sie griff nach ihrem Handy, präsentierte nach kurzem Scrollen den Eintrag im Adressbuch. »Ich habe sie bei mir gespeichert. Patrick hatte die Nummer nie parat, wenn er sie brauchte. Irgendwie hat er den Kontakt wohl immer versehentlich am Ende des Telefonats gelöscht. Muss was Psychopathologisches gewesen sein. Offensichtlich wollte er sein Handy vor zu viel Nähe mit seiner Mutter schützen.« Tränen schwappten über den Lidrand, kullerten über die schmalen Wangen. Hektisch fischte Doreen nach einem Taschentuch, wischte energisch über ihr Gesicht. »Wenigstens kann keine Schminke verlaufen. Sieht ja grässlich