Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich
darf Ihnen, wie Sie ja wissen, zu den Ermittlungen eigentlich nichts sagen, und ich bitte Sie inständig, das, was ich Ihnen jetzt sage, für sich zu behalten. Versprechen Sie mir das?“
Heribert nickte und spitzte die Ohren. Was mochte jetzt kommen?
„Die Leiche von Walter Zeller wurde ‚zugerichtet‘. Und ich meine zugerichtet.“
Heribert stutzte. „Zugerichtet!“
Er dachte einen Moment nach, dann fiel der Groschen.
„Sie meinen – es gibt Ähnlichkeiten zwischen den früheren Mordopfern von Abraxas Lemm und Zeller?“
Witzbold nickte. Sein Handy summte. Er hörte eine Weile zu, beendete dann das Gespräch und blickte Heribert vielsagend an.
„Was haben Sie jetzt vor?“
Heribert zuckte mit den Schultern und zog eine Grimasse.
„Weiß noch nicht, mich vielleicht vor Lemm verstecken? Falls er sich an mir rächen will, wie er es ja bei seiner Verurteilung angedroht hat!“
„Das meinte ich nicht. Haben Sie Zeit? Jetzt gleich?“
„Wieso?“
Witzbold antwortete nicht und blickte ihn eindringlich an.
Heribert zuckte mit den Schultern. „Herr Lange und ich wollten jetzt eigentlich wieder zurück nach Kassel fahren.“
„Okay, dann kommen Sie, wir haben denselben Weg. Das wird Sie interessieren, Herr Falk.“
Er schnappte sich seine Jacke, und beide verließen das Büro.
Als Botho von ihm wissen wollte, was los sei, hielt er sich bedeckt und wich Bothos Fragen aus. Heribert hatte vor, sich an sein Versprechen zu halten, das er Witzbold gegeben hatte. Der Freund verstand und insistierte nicht weiter.
Wieder in Kassel, hatte Heribert Botho in der Nähe seines Geschäfts abgesetzt, das der in Kassel auf der verkehrsberuhigten Königsstraße betrieb, und war dann weiter zu der Adresse gefahren, die ihm Witzbold genannt hatte.
Heribert parkte seinen Wagen hinter der Komödie. Dann lief er zur Friedrich-Ebert-Straße. Er ging noch ein kleines Stück geradeaus und betrat das unscheinbare Gebäude. Ein uniformierter Polizist verstellte ihm den Weg. Heribert fiel ein, dass er noch seinen Dienstausweis hatte. Doch bevor er eine Straftat begehen und den Ausweis vorzeigen konnte, kam Witzbold ihm zuvor und erklärte dem Beamten, dass Heribert ein Kollege war.
Das ganze Gebäude war eine einzige Schließfachanlage, die mit biometrischer Authentifizierung arbeitete. Etwas weiter hinten, direkt vor einem geöffneten Schließfach, waren die Kollegen von der Spurensicherung bereits geschäftig. Und dann sah Heribert den abgetrennten Zeigefinger am Boden liegen – und Erbrochenes, vielleicht von der Person, die den Finger entdeckt hatte. Der Finger stammte von einer Männerhand. Derartiges hatte Heribert zwar schon oft gesehen, doch auch jetzt drehte sich ihm der Magen um. Das leise Fiepen in seinen Ohren, das er schon den ganzen Tag vernommen hatte, schien plötzlich lauter zu werden. Er versuchte jedoch, es zu ignorieren.
„Wir vermuten, dass es sich um den abgetrennten Finger Walter Zellers handelt“, erklärte Witzbold.
„Glaub ich auch.“
Beide starrten, während es in ihren Köpfen arbeitete, auf das immer noch am Boden liegende Körperteil. Es war behaart und bereits dunkelblau angelaufen.
„Ich fress ’nen Besen, wenn das nicht Zellers Finger ist“, knurrte Heribert, „das wäre ein bisschen zu viel Zufall, wenn es nicht so wäre, finden Sie nicht auch?“
Witzbold nickte. „Einer der Angestellten schaut gerade nach, wem das Schließfach gehört.“
Heribert stutzte. „Jetzt erst?“
Witzbold zuckte mit den Schultern. „Vielleicht die allgemeine Aufregung. Man findet nicht jeden Tag einen abgetrennten Finger.“
Das stimmte vermutlich.
„Ich erwarte zeitnah die Ergebnisse der Spurensicherung und den Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin.“
Heribert blickte ihn verwirrt an.
Witzbold half ihm auf die Sprünge. „Vom Tatort in Wolfhagen und Zellers Leiche.“
„Ist mir klar.“
„Kann ich auf dich zählen?“
Heribert stutzte. „Zählen, Herr Witzbold, auf was denn?“ Doch ein Blick in Witzbolds Gesicht ließ ihn die Antwort erahnen.
Olav schien sich Unterstützung von ihm zu erhoffen – eine Zusammenarbeit. Schließlich war die operative Fallanalyse Heriberts tägliches Brot … gewesen. Und für den Fall, dass es sich um den Auftakt einer Mordserie handelte, für die Abraxas Lemm tatsächlich als Täter infrage kam, war Heribert geradezu ein Glückstreffer. Schließlich kannte er sich mit Lemms Täterprofil bestens aus. Außerdem würde er ein persönliches Interesse daran haben, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.
Und diese Einschätzung stimmte. Heribert wog das Für und Wider hinsichtlich Olavs Vorschlag ab und kam zu dem Ergebnis, dass er profitieren konnte, wenn er ihn bei den Ermittlungen unterstützte. Im Interesse von Botho und Ayumi – eine Win-win-Situation sozusagen. Doch er wusste, dass dies nicht der einzige Grund war. Wenn Abraxas für den Mord verantwortlich war, dann musste er selbst sich vor ihm vorsehen, schließlich hatte Lemm geschworen, sich an ihm zu rächen – ihn zu töten.
Heribert gab sich einen Ruck. „Klar! Ich unterstütze dich. Und wenn es sich hier tatsächlich um die Tat von Abraxas Lemm handelt … also, wenn, dann findest du vermutlich niemanden, der sich mit dessen Täterprofil so intensiv beschäftigt hat – sprich auskennt – wie ich!“
Witzbold nickte zufrieden. „Genau!“
„Vermutlich werden dann bald auch die Kollegen von Wiesbaden hinzugezogen.“
Olav ging nicht darauf ein. „Wir sind uns einig?“
Heribert nickte.
Jemand von der Spurensicherung verpackte den Finger in ein Plastiktütchen. Heribert wendete sich ab. Verdammt – eigentlich hatte er doch nur noch harmlose Fälle übernehmen wollen, wie etwa das Beschatten von Eheleuten, die ihren Partner der Untreue überführen wollten, oder so etwas in der Art.
Und nun sah es ganz so aus, als wäre er wieder inmitten einer Sache, von der er jetzt schon wusste, dass sie ihm den Schlaf rauben würde. Doch er kam nicht raus aus der Nummer – er hatte seinen Freunden versprochen zu helfen. Schon jetzt lief in seinem Inneren der altbekannte Film ab. Er sah sich an diversen Tatorten inmitten der Leichen, für deren Ermordung Lemm verantwortlich gewesen war – scheußlich!
Einer der Angestellten von der Schließfachfirma kam zu Witzbold und raunte ihm etwas zu.
Olav stutzte und blickte Heribert vielsagend an. „Tja, wie schon vermutet – das Schließfach gehört Walter Zeller!“
„Und ist komplett leer.“
11
Junas Blick fiel sofort auf einen regenbogenfarbenen Baumwollpullover mit grüner Borte und bunten Fransen, als sie das Komm herein, ein Bekleidungskaufhaus für Kinder und Jugendliche, zusammen mit ihrer Mutter betrat.
„Au, Mama, den würde ich gerne anprobieren.“
Michaela nickte und lächelte. Die Kleine schnappte sich den Pullover und entschwand in eine der Kabinen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Eine Mittdreißigerin, mit dunklem Haar und hohen Wangenknochen, lächelte sie an.
Michaela erklärte, dass sie für ihre zehnjährige Tochter ein paar Kleidungsstücke für den Sommer kaufen wollte. Die beiden Frauen waren einander sofort sympathisch und kamen ins Gespräch, während Ayumi ein paar Kleidungsstücke heraussuchte.
Michaela