Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich
Grace Jones.
Als seine Hunde plötzlich stehen blieben und sich neugierig umblickten, bemerkte er diesen Umstand nicht. Eine krächzende Stimme lockte mit Leckerchen. Lude bemerkte auch dies nicht. Nur seine Hunde drehten plötzlich ab, um der schmeichelnden Stimme aus dem Gebüsch zu folgen, während ihre Schweineschwänzchen sich aufgeregt drehten in Erwartung der Leckerlis.
Eine aufgeschreckte Rabenkrähe flog plötzlich aus dem Gebüsch.
Lude blieb abrupt stehen – wo zum Teufel steckten seine Möpse? Er wollte sich gerade umdrehen und nach seinen Lieblingen pfeifen, als er ein Geräusch hinter sich hörte und sein Kopf fest nach hinten gezogen wurde. Er hörte das Knacken der Wirbel, spürte den Schmerz und erahnte mehr als dass er sie sah – die Klinge, mit der der präzise und tödliche Schnitt ausgeführt wurde.
Noch während er stürzte, sah er, wie in Zeitlupe, den Blutschwall, der sich auf den Boden ergoss und das Gras rot färbte. Ein paar Blutstropfen waren weiter weg auf die filigranen Spinnweben im Gras gespritzt. Lude sah es, während er zu Boden ging, und wunderte sich, wie schön es aussah, während alles bizarr und unwirklich wurde – sein Geist zunehmend dahintrieb.
Von irgendwoher, weit weg, wie durch Watte, drang immer noch Grace Jones zu ihm durch – „Slave to the Rhythm“, was für ein Song. Dann sah er das Paar Turnschuhe direkt vor seinem Blickfeld auftauchen. Irgendetwas war komisch, doch er folgte diesem Gedanken nicht mehr. Er seufzte, rang nach Luft und hörte sein eigenes Gurgeln. Ein letztes Mal bäumte er sich gegen den heftigen Schmerz auf. Durch die gespreizten Beine seines Mörders glitt sein letzter Blick zu den glitzernden Spinnennetzen. Wie bei einem sauguten Foto, dachte er und spürte plötzlich keinen Schmerz mehr.
Dann wurde alles still.
10
Heribert gähnte und blickte Botho von der Seite an. Sein Freund sah müde aus. „Kaffee wäre jetzt gut. Gibt weit und breit keinen Automaten hier – habe ich schon ausgespäht.“
„Die Kripo Korbach kocht eben ihren eigenen Kaffee – schmeckt auch besser als die Plörre aus den Automaten“, erwiderte Botho und gähnte ebenfalls.
Eine hübsche, brünette Polizistin ging mit einem Pott Kaffee bestückt den Flur entlang.
Heribert schloss die Augen. „Riechst du das?“
Botho grinste und blickte der Frau sehnsüchtig hinterher. „Mhm.“
„Herr Lange?“
Ein schlanker Mittdreißiger blickte sie fragend an. Botho stand auf.
Der Mann reichte ihm die Hand. „Ich bin Kriminalhauptkommissar Witzbold, kommen Sie bitte mit.“
Als Heribert Anstalten machte, ebenfalls mitzukommen, ging Witzbolds Blick irritiert zwischen den Männern hin und her.
„Das ist mein Freund Heribert Falk, den ich zu meiner Unterstützung mitgebracht habe“, erklärte Botho, „ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.“
„Natürlich nicht. Allerdings verstehe ich nicht, warum Sie glauben, Unterstützung zu brauchen. Ich vernehme Sie nur als jemanden, der Herrn Zeller gut gekannt hat und uns bei den Ermittlungen mit sachdienlichen Hinweisen behilflich sein kann.“
Er reichte Heribert die Hand. „Ich vermute, Sie sind Anwalt?“
„Nein, Kriminalhauptkommissar wie Sie, allerdings außer Dienst.“
Dass er Fallanalytiker war, behielt er lieber erst mal für sich.
„Aha, wie das?“ Witzbold blickte ihn neugierig an.
Einen Moment zögerte Heribert, bevor er antwortete.„Der Wunsch nach Veränderung.“
Er mochte nichts zu den weiteren Umständen seines Ausscheidens bei der Kripo sagen und hielt sich auch später, nach der Vernehmung Bothos – beim Small Talk – eher bedeckt, hörte zu, während er den von Witzbold servierten Kaffee dankbar trank.
Tatsächlich konnte Botho keine nennenswerten Hinweise zu dem Ermordeten geben und musste erstaunt feststellen, dass er Walter Zeller nicht wirklich gut gekannt hatte. Er lebte allein in einem Einfamilienhaus in Wolfhagen, das wusste er, und dass Zeller kinderlos geschieden war.
Ob Zeller noch andere Klienten in Steuerangelegenheiten beraten hätte, wollte Witzbold wissen. Botho gab an, dass er auch darüber keine Kenntnis habe. Auch die Fragen zu seinem Umfeld – ob Zeller eine Beziehung gehabt hätte – konnte er nicht beantworten. Sein Kontakt mit Zeller habe sich ausschließlich auf das Geschäftliche beschränkt, abgesehen von ein paar Arbeitsessen, erklärte er abschließend.
Heribert und Botho tranken ihren Kaffee aus, und Witzbold bedankte sich. Er begleitete beide nach draußen.
Jemand war damit beschäftigt, an der Flurwand ein Plakat zu befestigen. Heribert blieb stehen und drehte um. Er war schon fast an der Fahndungswand vorbei gewesen. Nachdem er den Text auf dem Plakat gelesen und dabei zunehmend schockiert ausgesehen hatte, wendete er sich Witzbold zu.
„Abraxas Lemm konnte aus dem Gefängnis entkommen?“
Witzbold nickte.
„Vor etwa einer Woche. Er saß in der Justizvollzugsanstalt in Butzbach ein, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sie sind mit dem Fall vertraut?“
„Ob ich mit dem Fall vertraut bin? Und ob ich das bin! Ich habe den Hurensohn hinter Gitter gebracht!!“
„Ach, Sie waren das?“
Witzbold warf ihm einen Blick zu, der sowohl Erstaunen als auch Anerkennung zum Ausdruck brachte. Für einen Moment herrschte Schweigen.
„Aber wie konnte dies passieren?“, wollte Heribert wissen.
Witzbold zögerte und blickte zu Botho.
Heribert verstand. „Botho, nur einen Moment, ich komme gleich.“
Der Kripobeamte schloss die Tür und wendete sich Heribert zu, der ihn erwartungsvoll anblickte.
„Lemm musste ins Krankenhaus und hat dort seinen Bewacher niedergeschlagen.“
„Was?“
„Ja. Vermutlich eine Verknüpfung unglücklicher Umstände.“
„Wie bitte?“
„Lemm schien krank – in wirklich schlechter Verfassung – zu sein, als er in die Klinik kam. Als man ihm eine Infusion anlegte und ihm deshalb kurz die Handschellen entfernte, tja, da musste ausgerechnet einer der zwei Sicherheitsbeamten dringend auf Toilette. Lemm hat die Gelegenheit genutzt und konnte entkommen.“
„Nicht zu fassen!“
Heribert konnte sich nur schlecht beherrschen.
„Das ist doch keine Verknüpfung unglücklicher Umstände! Die Wachleute haben sich schlicht und ergreifend nicht an die Vorschriften gehalten!“
„Und haben die Situation und die Gefährlichkeit von Lemm unterschätzt. Das ist grobe Fahrlässigkeit. Ich sehe es wie Sie, Herr Falk. Ein Disziplinarverfahren ist auch bereits eingeleitet.“
Tausend Gedanken schossen Heribert gleichzeitig durch den Kopf. Wie war es Lemm anschließend gelungen unterzutauchen? Hatte er einen Komplizen gehabt? Vermutlich. Wenn dem so war, dann hatte er den Ausbruch wohl geplant. Und warum hatten seine Kollegen – stopp, seine Exkollegen – ihn nicht über Lemms Flucht informiert? Schließlich war Lemm ein gefährlicher Psychopath und alles andere als gut auf Heribert zu sprechen.
„Warum zum Teufel wurde in den Medien nicht darüber berichtet? Die Leute müssen doch informiert werden, wenn ein gefährlicher Serienkiller auf freiem Fuß ist.“
Er gab sich selbst die Antwort.
„Vermutlich will keiner für derartige Schlampereien Verantwortung übernehmen – alles nur Politik! Und wenn niemand etwas erfährt, ist es auch nicht passiert.“
Er rief sich zur Ordnung