Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


Скачать книгу
uns meine letzten Gagen in bar auszahlen zu lassen. Tant mieux – umso besser! Auf diese Weise war meine Brieftasche jetzt prallvoll, und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Außerdem war Paris kein teures Pflaster. Aus üppigen Mahlzeiten machte ich mir nichts, die Zigaretten hatte meine Gebieterin mir schon vor Jahren abgewöhnt – „ein erstklassiger Pianist wie du kann nicht mit gelben Fingern herumlaufen“ –, und selbst die Huren in den Elendsvierteln rund um die Rue Saint-Denis verlangten für ihre Dienste kaum mehr, als ein Mittagessen in einer Brasserie kostete.

      Schnell hatte ich heraus, wo die käuflichen Mädchen tagsüber herumlungerten, les putes, le puttane, und ebenso schnell waren meine Besuche bei ihnen auch wieder vorbei. Sie erregten mich nur für wenige Minuten und interessierten mich auch nicht wirklich, ich liebte sie mit der Glut des Südländers, heftig, stürmisch, rücksichtslos, und stieß sie gleich wieder von mir, gewährte ihnen keinen Kuss, keine Zärtlichkeiten, kein freundliches Wort, aber ich hatte es satt, dass Brenda mich seit Monaten am langen Arm verhungern ließ und ich, dank ihrer perfekten Nonstop-Beaufsichtigung, auch anderweitig nicht zum Zuge kam. Und ließ daher an den jungen Dingern, die gar nichts dafür konnten und selbst nichts zu lachen hatten, meine Frustration aus.

      Die leichten Mädchen hier nahmen meine Indifferenz und meine Brutalität nicht schwer. Den Typ Mann kannten sie: geil und emotionslos. Es war ein ehrlicher Deal: Ich brauchte ihre Umarmungen, ihre vorgetäuschte Hingabe, ihr einstudiertes Seufzen und Stöhnen, so wie sie nach dem Akt ihr hart verdientes Geld, eine Fluppe und einen „petit rouge“ benötigten.

      Eines der Flittchen – eine falsche Brünette mit spärlichem roten Schamhaar – entlarvte meine Herkunft, sprach Italienisch und erzählte mir, dass sie aus Taormina sei. Und Flavia heiße. Mir war das herzlich egal. Nie würde sie erfahren, dass sie ihren Körper soeben an Sandro Magazzano verkauft hatte. Für ein unromantisches, hitziges Viertelstündchen.

      „Was für ein hübscher Bursche!“, sagte sie anerkennend, als ich mir die Hose zuknöpfte und die Krawatte wieder umband, „che bel ragazzo che sei ... Was treibst du nur hier?“

      Sie runzelte die Stirn und wies auf meinen Ehering: „Lässt Madame dich nicht ran?“

      Sie angelte sich den großen, zerknitterten Franc-Schein, den ich auf dem Nachttisch deponiert hatte, und tätschelte mir den Rücken. Ich knurrte eine unverständliche Antwort, blaffte zurück und suchte das Weite.

      Es war schon gut so, dass ich mich mit Flavias Konkurrentinnen, den ordinären Französinnen, nicht unterhalten konnte: Ich sprach und verstand kein einziges Wort. Dabei sollte Französisch doch die Sprache der Liebe sein!

      Charmant und romantisch fand ich aber vor allem diese Stadt, die Stadt der Städte, deren vielfältigen Geheimnissen ich jetzt auf den Grund gehen konnte. Ich hoffte, Colette oder wenigstens Cocteau in den Gärten des Palais-Royal zu begegnen. Ich wappnete mich, um für das Aufeinanderprallen mit Theater-Erneuerern wie Beckett und Ionesco oder mit großen Denkern wie Sartre und Malraux gerüstet zu sein. In einem Café, im Dôme oder in La Rotonde. Ich hielt Ausschau nach den Surrealisten. Irgendwo in Montparnasse mussten sie doch herumspuken – nicht nur in Ateliers oder auf Vernissagen. Ich musste damit rechnen, all diesen tonangebenden Künstlern und Philosophen früher oder später über den Weg zu laufen … Ich ließ auf der Place du Tertre eine Karikatur von mir anfertigen, die obligatorischen Windmühlenflügel des Moulin Rouge bildeten den Hintergrund der ziemlich misslungenen Zeichnung. Ein Toulouse-Lautrec hätte das besser hingekriegt! Und ich vermied es tunlichst, mich mit Kollegen zu treffen. Aufs Fachsimpeln mit anderen Musikern oder gar mit dem eitlen Lyoner Dirigenten, der mich erst kürzlich auf einer England-Tournee begleitet hatte, konnte ich getrost verzichten.

      Nur auf einem Treffen mit dem großen Organisten und Komponisten Olivier Messiaen würde ich bestehen. Er improvisierte, Brenda selbst hatte es mir verraten, jeden Sonntagmorgen während der Messe in der Trinité-Kirche beim Bahnhof Saint-Lazare. Und manchmal auch nachmittags, ohne dass ihn ein Betender oder Andächtiger bei der Ausübung seines Metiers störte.

      Wuchtig und schwer verdaulich waren seine Improvisationen, dann wieder rätselhaft und verästelt, und jedes Mal so kompliziert und verwirrend, dass sie den Rahmen jedes Gottesdienstes sprengten. Messiaen vergrub sich tief in den Klangspektren exotischer Kulturen, baute zahllose Vogelrufe in seine Werke ein, brachte seine Orgel zum Strömen und zum Stöhnen, zum Explodieren und zum Abstürzen, förderte Unerhörtes zutage, blickte, mit den Fingern auf den Tasten, in Abgründe, tauchte seine Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Fügte ihnen Schmerzen zu, verwöhnte sie, ließ ihnen Wohltaten widerfahren.

      Es musste, da waren sich alle einig, die ihn erlebt hatten, eine Offenbarung sein. Auch ich würde für Messiaen untertauchen und mich treiben lassen. In einem Meer der Sinnlichkeit. In einem Ozean der Orientierungslosigkeit. Mit etwas Glück würde ich ihn sogar allein antreffen und ihm minutenlang zuhören können. Etwas über Klangfarben lernen und musikalische Meditation. Ansprechen würde ich ihn und ihn bitten, auch mir bald zu lauschen.

      Das war ein echtes Genie. Das war ein Wilder. Das war ein Musiker, den nur Paris hervorbringen konnte. Rebellisch, unbequem. Ein Mann mit Spleen, so schien es mir, in einer Stadt mit Flair.

      Allein schon wegen dieses Messiaen, der Gott und Satan, Glückseligkeit und heillose Untiefen auf seinem Instrument her­aufbeschwören konnte, genau wie ich allein kraft seiner Fingerfertigkeit und seines Tastenzaubers, lohnte es sich fremdzugehen, mit Paris Liebe zu machen. Allein seinetwegen lohnte es sich, Paris zu streicheln und sich von Paris streicheln zu lassen. Und London ganz bewusst ein wenig zu vernachlässigen.

      Je länger ich vor meiner Frau und meinem gewohnten Leben davonlief, desto alberner wurde mein Verhalten: Es war schlicht unmöglich, mir vorzumachen, dass ich Brenda Finnegan nicht zu Dank verpflichtet war: Ich verdankte ihr sehr wohl sehr viel. Eigentlich fast alles.

      Brenda, mit ihrer unfehlbaren Spürnase und ihrer immensen Kultiviertheit, hatte mich bei einem Vorspiel in Turin entdeckt und unter ihre Fittiche genommen. Als ich vierzehn war. Brenda hatte meine armen, hinterwäldlerischen Eltern dazu gebracht, dass sie mich ziehen ließen, ohne auch nur in Ansätzen zu verstehen, wie aus ihrem Sandro, dem kleinen, ungeschickten Jungen aus ihrem Bergdorf, jemals eine internationale Berühmtheit werden konnte. Oder warum ihr sonderbares Kind, ihr Traumtänzer Sandro, auf einmal unbedingt eine exklusive Ausbildung benötigte und bald überall auf der Welt Kompositionen großer Meister interpretieren würde, deren Namen sie nicht einmal buchstabieren konnten. Als ich fünfzehn war. Brenda war eigens nach Apricale gereist und in unsere kümmerliche, baufällige Hütte gekommen, wo sie sich den Mund fusselig geredet hatte, bis Gennarino, mein Papa, und Serafina, meine Mama, ihr endlich vertrauten. Irgendwann war es ihr gelungen, mich ihnen für immer abzuluchsen. Sie von meiner außergewöhnlichen Begabung zu überzeugen. Ihnen einen Vertrag vorzulegen und mit ein paar Kreuzen unterzeichnen zu lassen, der für sie ein Buch mit sieben Siegeln blieb. Alle rechtlichen Fragen – Volljährigkeit, Zuständigkeit, Fürsorgepflicht – hatte Brenda dabei bravourös umschifft. Als ich siebzehn war. So als benötigte ich eine klügere, weltläufigere Adoptivmutter und nicht nur eine Managerin.

      Sie hatte, als sie mich erst einmal eingesackt hatte, dann auch Wort gehalten und mich jahrelang unterstützt, mir in Wien und Zürich Schliff beigebracht und die teuersten, einflussreichsten Klavierlehrer Europas auf mich angesetzt. Auf Sendro.

      Immer sprach sie meinen Namen Seeennndro aus, mit langem, hartem e und ebenso langem n, nie nahm sie das weiche, sanfte und mediterrane a in den Mund, und so wurde ich in ihrer Darstellungsweise, noch bevor wir uns in London überhaupt häuslich niederließen, zu jemand anderem. Zu ihrer Kunstfigur. Sie bevormundete mich im Wortsinn. Ich wiederum hatte mich nicht lumpen lassen und mich ihres Vertrauens würdig erwiesen. Ich war bereit gewesen zu dieser Dressur, hatte alle Torturen über mich ergehen lassen und war seit einigen Jahren über mich hinausgewachsen. Ein weit besserer Konzertpianist geworden, als sie es sich je erträumen konnte. Ein weit selbstbewussterer Mann, als es ihr recht sein konnte. Ein Ehemann, der mittlerweile nicht mehr automatisch mit ihr schlief und wie ein Schoßhund sofort angesprungen kam, sobald sie mit den Fingern schnippte.

      Brenda betrachtete mich seit einiger Zeit mit großem Argwohn. Und bald darauf kam es so weit, dass nichts mehr zwischen


Скачать книгу