Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


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man konnte getrost zur Routine übergehen. Hände wurden geschüttelt, knappe Begrüßungen ausgetauscht.

      „Schön, dass Sie mal wieder bei uns sind, Beaufort“, sagte der Gefängnisdirektor mit unverstellter Freundlichkeit zu ihm und sah ihn dabei direkt an, eine Spur zu lang vielleicht. Eine Anspielung auf die dumme Angelegenheit in Pentonville? Rupert hatte nicht den Eindruck.

      „Sie wissen ja, was zu tun ist“, fuhr der ältere, ehrwürdige Herr fort, auch er nicht in Uniform. „Ratschläge benötigen Sie nun wirklich nicht.“

      Er nickte Rupert anerkennend zu, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es schätzte, dass der Executioner sich hier bestens auskannte, hielt inne – fiel ihm noch etwas ein? – und räusperte sich.

      „Wir sehen uns dann morgen früh.“

      Lurie verabschiedete sich gleich wieder. Der Priester und die beiden Wärter, die während der Prozession zu beiden Seiten des Sträflings mit ihm von der Todeszelle in die unmittelbar benachbarte Schreckenskammer schreiten würden, waren noch nicht anwesend. Sie würden erst im Morgengrauen dazustoßen und dann zwei Kollegen ablösen, die den Vortag und die Nacht mit dem Verurteilten verbrachten. Oft waren sie es, mit denen der Unglückliche Zigaretten rauchte und palaverte, seine Henkersmahlzeit zu sich nahm. Oft waren sie es, die am meisten von ihm erfuhren, seine Nöte, seine letzten Geheimnisse, die seine Verzweiflung und seine Tränen zu sehen bekamen, manchmal auch seine Reue, seine tiefe Bestürzung.

      Oft waren sie es, die nach der Todeshandlung Mühe hatten, die Fassung zu bewahren. Vielleicht, weil sie dem zum Sterben Verdammten so verdammt nahe kamen. Und als Vorletzte dessen Körperwärme gespürt hatten, die dann auf einmal nicht mehr da war, wie weggezaubert.

      Rupert teilte sich mit Howard eine Zelle, eine Etage höher. Mit einem Waschbecken sowie zwei Feldbetten ausgestattet und recht komfortabel, „unser Wohnzimmer“, witzelten sie, ihr Living Room. Wenn Phelps auch die Angewohnheit hatte, fürchterlich laut zu schnarchen. Für ihr leibliches Wohl würde gesorgt sein. Oft sogar war das Essen, das man ihnen hochbrachte, erstklassig und stammte gar nicht aus der Gefängniskantine. Woher genau und wer dahintersteckte, blieb ihnen verborgen: ein unbekannter Gönner. Gewiss ein Förderer, ein Befürworter des Todes durch den Strang, dem es eine Herzensangelegenheit war, den Henkern ihren Arbeitstag so angenehm wie möglich zu gestalteten.

      Den angebotenen Alkohol lehnten sie kategorisch ab. „Hinterher“ genehmigte sich Howard, noch an Ort und Stelle, gern ein Bierchen oder einen Cognac, denn die Gefängnisleitung hielt immer ein paar hochprozentige Getränke und Erfrischungen bereit, sobald alle wieder außerhalb der Schreckenskammer waren; Rupert trank erst, wenn er und Howard die Haftanstalt verlassen hatten und vor der Heimreise noch irgendwo in London einkehrten. Meistens spielten sie am Vorabend Karten, unterhielten sich über dies und jenes und legten sich früh schlafen. Um bei Tagesanbruch fit und hellwach zu sein.

      Die größte, anstrengendste Arbeit kam aber jetzt: die Generalprobe. Die Simulation. Das genaue Durchspielen der morgigen Hängung. Wichtiger noch als die Tötung selbst, wie Rupert gern betonte, auch wenn das, wie er an Howards ausbleibender Reaktion sehr wohl bemerkte, immer etwas oberlehrerhaft wirkte.

      In einem ersten Schritt schob Rupert einen Riegel beiseite, ganz leise, um keinen Lärm zu verursachen, und blickte durch ein längliches Peeploch, ähnlich dem Spion an Wohnungstüren, nur dass es ein sehr viel genaueres Studium des dahinterliegenden Raumes ermöglichte, in die Todeszelle. Ohne dass der Gefangene das wusste. Und möglichst auch nicht mitbekam. Judas­auge, so nannte man in der Henkerszunft diesen Spalt. Das war immer der entscheidende Moment: den Delinquenten taxieren, in Augenschein nehmen, beobachten und sein Verhalten analysieren. Seine Nervosität oder Gefasstheit einschätzen. Seine etwaige Gewaltbereitschaft in Betracht ziehen. Seine Größe und sein Gewicht überprüfen. Und davon ausgehend beurteilen, welche Fallhöhe benötigt wurde, welche Stricklänge.

      Dabei kam es auf jeden Inch an. Verschätzen durfte man sich dabei nicht. Jede Fehlkalkulation würde beim Fallen eine qualvolle Strangulation des zu Hängenden nach sich ziehen, die mehrere Minuten dauern konnte und einer Folter gleichkäme, im schlimmsten Falle seine ungewollte Enthauptung. Das wäre dann eine verpfuschte Hinrichtung, und die konnte niemand wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Hängen und Würgen. Abscheulich.

      Rupert Beaufort und Howard Phelps hatten bislang immer richtiggelegen, sie waren ein perfekt eingespieltes Team.

      Rupert betrachtete den Todeskandidaten, der ihm den Rücken zukehrte, und ließ sich dabei Zeit. Der Mann, schlank, lockiges Haar, hochgewachsen und mit einem ungewöhnlich großen, fast kantigen Kopf, saß am Tisch, kerzengerade und bewegungslos, in die Lektüre eines Buches vertieft, vor ihm ein Stapel länglicher, großer Bände, von denen der oberste aufgeschlagen war. Als Rupert die Augen zusammenkniff und genauer hinschaute, meinte er eine mit kleinen schwarzen Zeichen und Punkten übersäte Partitur zu erkennen. Noten also – für ihn nichts anderes als Hieroglyphen. Die Wärter saßen hinten in der Ecke, sprachen halblaut untereinander und zeigten sich gegenseitig irgendetwas in einer Sportillustrierten. Beaufort bedauerte, dass er das Gesicht des Delinquenten nicht sehen, dessen Züge nicht studieren konnte. Etwas an dessen ruhiger Haltung beeindruckte ihn. Der hier wirkte nun wirklich nicht, als fürchtete er sich davor, in wenigen Stunden gehängt zu werden. Der konnte sich beherrschen. Dessen elegante Hände fielen ihm auf und seine südländische Erscheinung. Kultiviert wirkte er, nobel. Fromm eher nicht. Kein Gangster oder gewöhnlicher Ganove.

      Howard hatte Rupert den Vortritt am Judasauge gelassen, nun trat er selbst beiseite, damit auch der Jüngere sich ein Bild von dem Hinzurichtenden machen konnte. In Gedanken errechnete er bereits die bei der Vollstreckung benötigte Fallhöhe, damit der Long Drop, wie man in England das kalkulierte, jeweils neu festgelegte Herabstürzen durch die sich nach unten öffnende, in der Mitte geteilte und in zwei Richtungen oder Hälften auseinanderklappende Falltür nannte, erfolgreich zum Einsatz gebracht werden konnte. Dadurch war das Ersticken bei gleichzeitiger Bewusstlosigkeit quasi garantiert, und ein qualvoller, in die Länge gezogener Würgetod war damit ausgeschlossen.

      The Long Drop, einst von William Marwood, dem Urahnen der modernen Henker, erdacht: die humanere und bei Weitem beste, von Fachleuten bevorzugte Methode, weil der verantwortliche Henker für jeden Verurteilten individuelle Maße zur Anwendung kommen ließ, anstatt sich ohne Rücksicht auf die Besonderheiten jedes Einzelnen mit einem mittleren Standardwert für alle zu Hängenden zu begnügen – so wie es früher, zum Leidwesen seiner Vorgänger, der Fall gewesen war.

      Howard schob den Riegel wieder vor den Spalt, entfernte sich von der Zelle und stellte lapidar fest, als beide wieder außer Hörweite waren: „Der wird uns keine Scherereien bereiten, da bin ich mir sicher. Der hat die Ruhe weg.“

      Und erwähnte dann noch, dass der Mann Magazzano heiße und, obwohl italienischer Herkunft, hier aus London sei.

      Rupert nahm es zur Kenntnis.

      Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie im Schweiße ihres Angesichts mit der mehrmaligen Hängung eines Dummys, einer Gliederpuppe in Menschengestalt, deren Gewicht und Länge veränderbar war und die sie untereinander als „Strohmann“ bezeichneten. Sie überprüften das Alter, die Qualität und die Straffheit des Seils, auch dessen Durchhaltevermögen, bereiteten die Schlinge vor und tasteten danach den Lederriemen ab, den man bei dem Unglücklichen unterhalb des linken Kieferknochens anbrachte. Damit wurde ein präziser Genickbruch ermöglicht: durch die Fraktur mehrerer Nackenwirbel und die Kompression wichtiger Schlagadern – sowohl der Kopf- als auch der Wirbelsäulenarterie.

      Ferner prüften sie den Mechanismus des Hebels, mit dem das Öffnen und Auseinanderklappen der Falltür ausgelöst wurde, schauten sich die am Hebel angebrachte Sicherheitsverriegelung genau an, um festzustellen, ob sie auch wirklich funktionsfähig war, inspizierten die Holzscharniere an der Falltür, um sicherzugehen, dass sie nicht morsch oder wurmstichig waren, und begaben sich zuletzt in den dunklen Raum unterhalb der Schreckenskammer, in dem ein Amtsarzt den augenblicklich eingetretenen Tod bestätigen und der Gehenkte bedauerlicherweise noch genau eine Stunde lang allein weiterbaumeln würde. So lautete die Vorschrift, so wurde es seit Jahrzehnten gehandhabt.

      Bis Beaufort den Leichnam endlich vom Strang nehmen,


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