Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


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      „Sie sind’s doch, Beaufort, stimmt’s?“, war die Standardformel.

      „Großartig, wie Sie Ihren Job machen!“, bekam er ein ums andere Mal gesagt. Gefolgt von einem solidarischen „Weiter so, alter Freund. England ist stolz auf Leute wie Sie.“

      Rupert verfuhr wie im Pub: Er bedankte sich artig, winkte bescheiden ab und lächelte, behalf sich mit ein paar nichtssagenden Floskeln, schlug wie ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal etwas Nettes sagt, verschämt die Augen nieder und gab deutlich zu erkennen, dass er nicht an Austausch oder Konversation interessiert war. Meistens gelang ihm das. Wenn nicht, verzog er sich in den Speisewagen, begab sich zum Rauchen in den zugigen Zwischenraum zwischen den Waggons oder versteckte sich hinter seiner Zeitung, gähnte vernehmlich oder täuschte ein Nickerchen vor. Dabei war er hellwach.

      Tagträume waren kein Allheilmittel gegen Belästigungen. Es war schon vorgekommen, dass, obschon er so unbeteiligt wie möglich zur Seite geblickt und betont gelangweilt getan hatte, ihn jemand in eine langwierige Unterhaltung verstrickt hatte, aus der er nicht entkommen konnte. Irgendein Unbedarfter und Wissensdurstiger, der ihn bis zur Ankunft nicht aus seinen Klauen ließ, dem immer noch weitere Fragen zu den Delinquenten einfielen, zu den Gräueltaten, die zu ihrer Verurteilung geführt hatten, zum Ablauf der Hinrichtung natürlich, zu Ruperts persönlichen Gefühlen und Eindrücken beim Hängen – intime Einzelheiten, über die er nie reden mochte, Gott bewahre, schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem hatte er vor Jahrzehnten eine bindende Erklärung unterschreiben müssen, die ihn zu radikalem Stillschweigen verpflichtete. Auf Lebenszeit. Ein solches Gelöbnis war ihm heilig. Innerlich, während er eine heitere Miene aufsetzte, verfluchte er dann diesen so bemühten, enthusiastischen Menschen vor ihm, der ihm Löcher in den Bauch fragte, weil er endlich einmal die Chance sah, über die Unterredung mit ihm direkt mit dem vermeintlich Bösen in Verbindung zu treten.

      Rupert hütete sich, solche Leute zu verprellen oder abweisend zu wirken. Der Galgenmann ertrug solche Zumutungen mit Galgenhumor. Das gehörte wohl zu seiner Stellung und zu seinem Amt dazu, dieses unablässige, eintönige Interesse. Das musste man aushalten. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Und auch nicht verärgern.

      Dass seine Fragensteller aber mit Enttäuschung reagierten, wenn sie bei ihm auf Granit stießen, das wiederum konnte er nicht verhindern. Dessen ungeachtet war ihm wichtig, dass sie ihn in guter Erinnerung behielten. Als zwar zugeknöpften, doch umgänglichen Zeitgenossen. Für maulfaul oder verschüchtert sollten sie ihn seinetwegen halten, aber nicht für unhöflich, ruppig oder gar feindselig. „Doch nicht so spannend, wie wir dachten. Doch kein so aufregendes Gewerbe. Und nicht gerade redegewandt, der Bursche …“: Wenn sie so von ihm dachten, wenn dies ihr Image von Rupert Beaufort war, dann ging das in Ordnung.

      Heute war alles gut gegangen, man hatte ihn im Zug und auch auf dem Bahnhofsgelände in Frieden gelassen. Die Reisezeit war wie im Nu vergangen. Rupert schritt, vom Gefühl beseelt, dass auch sonst alles wie am Schnürchen laufen würde, mit großer Eile aus dem Bahnhofsgebäude heraus und winkte ein Taxi herbei. Der einzige Luxus, den er sich im Rahmen seiner Aufträge leistete. Um nicht auch noch durch dicht gedrängte Großstadtstraßen hetzen zu müssen, um der unangenehmen Nähe von Menschenmassen zu entgehen. Um Clochards und Rowdys konnte er auf diese Weise einen großen Bogen machen und zugleich Ansammlungen aggressiver Spinner vermeiden, unter denen, wer weiß, womöglich auch noch Streitsüchtige waren, die für die Abschaffung der Höchststrafe demonstrierten und ihm den Weg in die Strafanstalt versperren mochten.

      Er warf sich auf den Rücksitz und schnippte, unternehmungslustig und auch ungeduldig, mit den Fingern. Der Fahrer, ein mürrischer Alter, der kaum die Zähne auseinanderbekam, gab nicht zu erkennen, ob er begriffen hatte, wen er da durch London kutschierte.

      „Wandsworth Prison – und sparen Sie die großen Boulevards aus“, kommandierte Rupert ihn herum und zündete sich eine Zigarre an.

      Das Zigarrerauchen gehörte für ihn wie schon für seinen Onkel Theodore, den alle Welt nur Uncle Theo genannt hatte, einfach zu den Ritualen dazu, mit denen man sich das Hinrichtungswochenende etwas angenehmer gestalten konnte. Drei pro Auftrag, mehr nicht.

      Uncle Theo, der nun schon zwei Jahre tot war, hatte ihm auch das beigebracht.

      Rupert kurbelte das Fenster herunter und spähte in den bleiernen Londoner Himmel. Es hatte sich bezogen und war, den gemäßigten Temperaturen zum Trotz, schwül geworden. Mit der kaum gelesenen Zeitung fächelte er sich Luft zu. Tauben flatterten vorbei. Als sie die Themse überquerten, ließ der Verkehr merklich nach. Auf den Trottoirs südlich des Flusses wimmelte es dagegen nur so vor Tagedieben, ausgehwütigem Volk und einkaufenden Hausfrauen. Vor den Pubs bildeten sich die ersten kleinen Schlangen, durchweg Männer, viele von ihnen noch in Arbeiterkluft. Die Freiflächen vor den Kinos waren gerammelt voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch.

      Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt.

      Rupert vergewisserte sich, bevor er das Auto verließ – denn nur drinnen war er in Sicherheit: Noch waren weit und breit keine Demonstranten oder Fanatiker zu sehen, keine Transparente, noch waren keine Trillerpfeifen oder wütenden Gesänge zu vernehmen.

      Menschenleer lag der abweisende Platz vor Portal und Haupt­eingang vor ihm, dahinter die große steinerne Festung mitsamt Barrikaden, wehenden Fahnen, Wappen, winzigen vergitterten Fenstern. Gewitterwolken brauten sich über der Fassade zusammen. „Welcome, Rupert“, sagte er zu sich selbst, und dann brach er in Schweiß aus.

      Vor dem Gefängnistor beim Aussteigen würdigte ihn der Chauffeur keines Blickes, hielt ihm am ausgestreckten Arm missmutig die Aktentasche hin. Bildete er es sich nur ein, dass er von ihm angeknurrt wurde?

      Er hörte etwas genauer hin. Ja, kein Zweifel: Hier wollte einer Stunk machen. Hatte der Mann etwas gegen ihn? Grollte er oder zählte er zu seinen erklärten Feinden? Welche Laus war ihm nur über die Leber gelaufen?

      „Thank you, Sir“, brachte der Alte dann mühsam hervor, verbeugte sich unmerklich und unterdrückte seinen Unmut, als Rupert ihm die Münzen einzeln in die Hand zählte. Presste die Lippen zusammen, so als würde jemand versuchen, ihm Gift einzuflößen. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ausgespuckt oder das Geld auf die Straße geworfen.

      Rupert entschied, das ungebührliche Betragen des Mannes nicht auch noch mit einem Trinkgeld zu belohnen.

      Er hielt inne und nahm die Haftanstalt in den Blick. Merkte, wie vertraut ihm gleich wieder alles war. Der Stacheldraht, die Scheinwerfer, die auf und ab patrouillierenden Wachen, die Schäferhunde mit Maulkorb. Die Abwesenheit von Passanten und spielenden Kindern. Die tödliche, gespenstische Stille. Sein Zuhause, sein Revier.

      Er drückte den Rücken durch und schien über sich hinauszuwachsen. Der gute alte Henderson stand schon bereit, tippte zum Gruß an die Mütze, lächelte knapp.

      Alles war wie immer.

      Seite an Seite mit Henderson durchschritt Rupert die ellenlangen Flure, nahm zuvor kurz vom Büropersonal Notiz, das sich zu seiner Begrüßung im Eingangsbereich versammelt hatte, und ließ sich eine Sicherheitstür nach der anderen von Henderson aufschließen.

      In jenen Zellen, die vom Innenhof nur durch Gitter abgetrennt waren und nicht durch Wände, standen die Gefangenen Spalier und verfolgten ihn mit den Augen. Keiner muckste sich, niemand erhob die Stimme. Alle wussten genau, wer hier zu Besuch kam und was sein Erscheinen zu bedeuten hatte. Als der Bedienstete und er, vom Erdgeschoss in den dritten Stock gelangt, nach etlichen Minuten endlich im Sicherheitstrakt angekommen waren, standen wie üblich schon der Gefängnisdirektor, Mister Lurie, jemand vom Justizministerium, ein kleiner Beamter, und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein hohes Tier, dessen Namen er sich nie merken konnte, bereit.

      Und Howard natürlich, ein Mittdreißiger aus Leeds, Howard Phelps, sein treuer, zuverlässiger Assistent, der ihm nun schon seit vielen Jahren zur Hand ging.


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