Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


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und Verlautbarungen gelöst, fühlte sich an wie ein in die Freiheit entlassener Vogel, der dem Horizont zustrebt, Meere und Berge unter sich zurücklassend. Alles an dieser erst grandiosen und dann wieder zarten Musik erzählte von einem anderen, sagenhaften Planeten, auf dem die Gedanken und Gefühle ungebundener waren als hier auf Erden.

      Rupert verstand nichts von dieser Tonkunst, doch sie erinnerte ihn an etwas lang Zurückliegendes, das er nicht benennen konnte, und er hätte noch stundenlang weiter zuhören mögen. Damit dieses Glitzern, dieses Leuchten einfach nie aufhörten.

      Dann trat schlagartig Stille ein. Howard und er vernahmen, schon weit nach Mitternacht, nach den letzten Kaskaden, Läufen und Akkorden, nur noch, wie der Italiener den Deckel zuklappte.

      Das unsichtbare Konzert war beendet. Wie ein gähnendes Loch tat sich eine große Leere auf. Eine Leere, mit der sie nichts anzufangen wussten. Melancholie überkam sie. Was für eine Talentverschwendung, dachte Rupert mit Bedauern, als er einschlief. Ausgerechnet diesem Teufelskerl, diesem Virtuosen das Leben nehmen zu müssen. Konnte man ihm sein Können, seine unglaublichen Fähigkeiten und seine Meisterschaft nicht vorher herauspräparieren, sie konservieren und im Labor rasch noch einem anderen, schuldlosen Menschen einpflanzen, der dann am morgigen Tag für ihn weiterspielen würde? Konnte man dieses Hirn und diese Empfindsamkeit nicht noch vor der Zerstörung retten?

      Ein, wie er wusste, absurder und dennoch wünschenswerter Gedanke. Aber nein, träumen tat Rupert auch in dieser seltsamen und wundersamen Nacht nicht. Er verbat es sich.

      Es gehörte zum Ritual in den Hochsicherheitstrakten britischer Gefängnisse, dass sich alle Anwesenden wenige Minuten vor neun Uhr morgens vor der Todeszelle einfanden. Was jetzt geschah, würde unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Keine Angehörigen der Opfer, die Rachegedanken hegen mochten, waren zugelassen und auch keine Angehörigen der Verurteilten, die imstande waren, verzweifelt oder hysterisch zu reagieren. Presseleute ebenso wenig. Lediglich ein Priester – aber nur, wenn der Delinquent das ausdrücklich wünschte – und die beiden Begleiter sowie ein Quartett aus Offiziellen: Gefängnisbeamter, Justizvertreter, Parlamentarier oder Ministeriumsangehöriger und Arzt. Von denen einer, im Anschluss an die Hängung, die ordnungsgemäße Vollstreckung des Urteils zu protokollieren und zu beglaubigen hatte.

      Totenstille herrschte im Trakt. Von der Straße drangen schrille Gesänge zur stummen Schar herauf; eine Handvoll aufgebrachter Hinrichtungsgegner standen dort unten vorm Tor, die ihre Friedenslieder und Protesthymnen angestimmt hatten und damit das ganze feierliche Ritual diskreditieren, stören und verhindern wollten. In die Vergeblichkeit ihres schaurigen Gesangs mischten sich Hartnäckigkeit und Stolz.

      Nun war es so weit. Nun nahte Rupert Beaufort, dicht gefolgt von Howard Phelps, und betrat die Bühne mit schnellem Schritt. Ohne auch nur einen kostbaren Moment zu verlieren, nickte er den Umstehenden kurz zu, riss die Zellentür auf und näherte sich dem Verlorenen, der bereits stehend auf ihn wartete.

      Hatte Rupert eine Frau vor sich, berührte er sie ganz sacht am Arm. Das genügte. Einem Mann legte er kurz freundschaftlich die Hand auf die rechte Schulter und drehte ihn damit bereits mit dem Gesicht zur Tür. Das wirkte. „Follow me!“ war das Einzige, was er zu ihm, was er zu ihr sagen würde, mit klarer Stimme, mit der gebotenen Festigkeit. Ohne Befehlston.

      Erst dann, wenn die anderen keinen Widerstand leisteten und sich zum Gehen anschickten, würde er sie für den Bruchteil einer Sekunde frontal anschauen. Würde sie mit seiner Mission konfrontieren. Ihnen den Auftrag der Allgemeinheit, sie zu beseitigen verdeutlichen, den er stellvertretend für die Richter und Geschworenen, für die Ankläger und Verteidiger, für die grundlos Hingemeuchelten und Bestohlenen, für die Erschlagenen und Betrogenen verkörperte. Ihnen zeigen, dass es eine Moral gab, der niemand entrinnen konnte. Damit der oder die andere noch einmal einem Menschen aus Fleisch und Blut begegnete, einem Menschen wie Du und Ich, auch wenn dieser Mensch, den man Henker nannte, ihm oder ihr gleich das Liebste wegnehmen würde. Rupert würde alle Zuneigung, derer er fähig war, bei diesem Anschauen zum Ausdruck bringen. Und zu erkennen geben, dass er den Leib des anderen nicht anrühren und seine Seele unversehrt lassen würde. Dass er lediglich dazu da sei, um den Übergang vom Leben zum Tod herzustellen und den Schmerz zu lindern. Dem anderen sein Vertrauen schenken. Ihn bitten, sein Schicksal doch gefälligst in seine kundigen Hände zu legen. Ihn um sein Einverständnis ersuchen, ihn nebenan aus der Welt schaffen zu dürfen.

      Nahezu immer erhielt Rupert dieses Einverständnis auch. Und heute? Er schaute den Italiener, der genau so ruhig dastand, wie er gestern an seinem Tisch mit den Partituren gesessen hatte, direkt in die Augen.

      Was er darin las und sah, war das Erwartete: Der Pianist erteilte ihm die Erlaubnis.

      Bat ihn um Erlösung.

      Gab sich ihm hin.

      Als sich ihre Blicke begegneten, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er hatte diesen Magazzano schon einmal gesehen.

      Und da wusste er, so wie man einfach weiß, dass es Sommer und Winter gibt, er wusste mit unumstößlicher Bestimmtheit:

      Dieser Mann war kein Verbrecher.

      2

       Zwei Blicke – und die Liebe

      bricht aus

      

      Immer wenn ich an diesen so besonderen Frühling denke, befällt es mich von Neuem: das überwältigende Bewusstsein der Befreiung. Diese Erleichterung, einem goldenen Käfig entkommen zu sein. Immer wenn ich mir diese Märztage in Erinnerung rufe, als ich allein in Paris sein durfte, als die Stadt mir und ich ihr gehörte und niemandem sonst, steigt es wieder in mir auf: dieses Gefühl, neugeboren zu sein.

      Neugeboren – das sagt sich so leicht dahin, das verwendet man oft, ohne es wirklich zu meinen. Aber auf mich traf es in vollem Umfang zu: Endlich, das erste Mal seit meiner Kindheit in Ligurien, das erste Mal seit meiner geraubten Jugend, das erste Mal seit meinen Studienjahren in Mailand und das erste Mal seit meiner Knechtschaft als Musiker und Künstler, war ich ganz allein. Wochenlang. Die reinste Wonne.

      Ja, allein. Nicht etwa einsam, verlassen oder verloren, sondern für mich. Nur für mich. Aus den Fängen eines besitzergreifenden, herrschsüchtigen Menschen befreit, der alles darangesetzt hatte, mich zu verunsichern, mich ans Klavier zu ketten und mir Unselbständigkeit einzureden. Aus den Klauen einer hartherzigen, ehrgeizigen Frau, die mich zuerst aufgebaut und zum Virtuosen gemacht, mir dann den eigenen Willen ausgetrieben, mich mit Disziplin traktiert und später nach Lust und Laune beeinflusst hatte.

      Bis zu diesem unvorhersehbaren Moment, in dem Brenda in unserem Pariser Hotel eine äußerst wichtige Nachricht erhielt und, ohne mich, überstürzt nach London zurückreisen musste, hatte ich es zugelassen, eine Existenz als ihr wohlhabender Sklave zu fristen. Als Vorzeigekünstler mit perfektem Anschlag und ohne echte Persönlichkeit. Auch als ihr Gatte: teilnahmslos und blass. Ein Gatte, der das in ihn investierte Geld wiedereinspielte und auch noch Gewinn machte, der sich nach Herzenslust auspressen ließ und ansonsten artig den Schnabel hielt. Von Luxus umgeben und unglücklich. Identitätslos. Von ihr, meiner Impre­saria, eingeengt, voller Hemmungen.

      Auf einmal, es bedurfte lediglich einer Ausgangssituation, mit der vorher nicht zu rechnen war, auf einmal ging es eben doch. Es funktionierte: Ich erwachte, wie man aus einer Narkose erwacht. Ich erwachte und war sogleich voller Tatendurst. Ich erwachte, und ich kam zurecht. Ich gestaltete meinen Tagesablauf. Ich traf eigene Entscheidungen. Es war wie ein Aufbäumen. Ich entdeckte mich selbst. Ich war in der Lage, das Podium zu verlassen und wie ein erwachsener Mann zu handeln. Ich war fähig, Glück zu empfinden, ohne gelotst zu werden. Ich wurde zu einem neuen, mir selbst unbekannten Sandro. Erlöst war ich, auf Zeit wenigstens. Auf mich selbst gestellt, unabhängig.

      Paris hatte mich wachgeküsst.

      Ich, der Wahl-Londoner Magazzano, der sich aus einem Leben in London nichts machte, auch wenn es ein Leben im Schlaraffenland war, konnte nicht genug bekommen von diesen zarten Küssen à la française. Ich, der Italiener im Exil, der den südlichen Teint und die braun gebrannte


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