Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


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sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen.

      Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt.

      Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen.

      Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Auserwählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.

      Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?

      Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert.

      Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war.

      Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag.

      Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf?

      Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte.

      Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und mager, so wie sein Daddy und dessen Bruder. Und das, obwohl er sich ohne Zurückhaltung über jeden Sunday Roast hermachte, den sie auftischte, und sich auch bei den leckeren, kalorienreichen Scones, die zur Tea Time gereicht wurden, gütlich tat. Rupert war es recht so. Dass Ruth diese herrlichen Rundungen besaß, gefiel ihm ungemein, und dass er zur Belohnung verdrücken konnte, was er wollte, ohne jemals auf sein Gewicht achten zu müssen, mindestens ebenso.

      „Gute Reise, my love“, hauchte Ruth ihm ins Ohr, löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich auf dem Absatz um.

      Rupert rief ihr ein „See you tomorrow!“ hinterher, wartete, bis er die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, drehte sich nicht noch einmal um und spazierte die kaum belebte Hauptstraße des Dorfes entlang gemächlich auf die Haltestelle zu.

      Schon sah er den Bus von Südwesten herannahen, er war pünktlich. In zwanzig Minuten würde Rupert in Preston sein, dann mit dem Vorortzug nach Manchester weiterfahren und um vierzehn Uhr mit dem Wochenend-Express von der London Road Station in die Hauptstadt reisen. Zweiter Klasse, das war an einem Freitagnachmittag am unauffälligsten. Und mit leichtem Gepäck – Beaufort führte nur eine Aktentasche mit sich, in der sich Füller und Papier, die Wochenendzeitung, ein Regenschirm, Waschzeug und frische Wäsche befanden. Sowie ein weißes Tuch, das er seinem Delinquenten morgen früh wie eine Kapuze über den Kopf ziehen würde.

      Ein Gnadenakt, den er stets gern erwies. Einer von vielen. Eine letzte Geste der Schicklichkeit.

      Alles würde wie immer sein.

      Tagträume gestattete er sich durchaus. Besonders während der langen, schier endlosen Zugfahrten quer durch das Vereinigte Königreich. Mit leerem Blick starrte er aus den verschmutzten Fenstern in die vorbeiziehende Landschaft aus Grün- und Brauntönen und die sich wie in Zeitlupe entfaltenden Städte und Industrieanlagen, nahm die heruntergekommenen Provinzbahnhöfe und die traurig in den Junihimmel ragenden Fabrikschlote nicht wirklich wahr, auch die wartenden und rauchenden Passagiere auf den Bahnsteigen nicht, ignorierte zu- und aussteigende Mitreisende, klappte die Lider herunter, registrierte nichts Bestimmtes um sich herum.

      Kurz, er verbrachte die Fahrtzeit wie in Trance. Blendete alles aus, lästige Gespräche, unbeholfene Anbandelungsversuche unter Teenagern, das öde Geschnatter aufgeregter Hausfrauen, die zum Shopping nach London unterwegs waren, fußballverrückte Männer, die fachsimpelten und andere von den Vorzügen gerade ihres Clubs überzeugen wollten, Fahrkartenkontrollen, fliegende Händler, das ewige Geschiebe von Koffern und Taschen, das inquisitorische Auftreten der Schaffner, von Sitznachbarn angebotene Bonbons, den strengen Geruch eines ausgewickelten, mit Innereien belegten Sandwiches, das Geräusch, wenn sich jemand aus einer mitgebrachten Thermoskanne Tee eingoss, die Ausdünstungen eines Arbeiters, der nach der Frühschicht in der Fabrik noch nicht dazu gekommen war, sich zu reinigen, all das also, was nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatte.

      Rupert schlug die Zeit tot, nutzte die langen Stunden und das monotone Geratter, um bei der Ankunft noch wachsamer, noch konzentrierter sein zu können.

      Tagträume waren sehr hilfreich. Um Fremde


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