Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck


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trennten ihn von ihnen, und, wie unübersehbar war, standen die Schergen auf der falschen Seite der Geschichte. Hatten sich ihr Los selbst zuzuschreiben, während er, momentan, sich aus freien Stücken in den Dienst der Alliierten stellte. Nach allen Regeln der Kunst hatte er mit ihnen, die in Schnellverfahren, von deren Verlauf er keine Kenntnis hatte, abgeurteilt worden waren, kurzen Prozess gemacht. Burt und Stuart meinten: hochverdient. Rupert müsse ein Orden verliehen werden für seine Verdienste ums Vaterland, um die Freiheit und die westliche Demokratie. Eine Auszeichnung für ihn müsse dringend her, mit einer großen Freudenfeier, mit Feuerwerk, Marschmusik und offiziellen Reden. Und auch Ruth ließ ihn spüren, dass er seine Sache diesmal besonders gut gemacht hatte.

      Triumphgefühle ließ, wie Rupert wusste, das britische Justizwesen gar nicht erst aufkommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit den heiklen Kriegsverbrecherprozessen, wo auch nicht unbedingt alles nach Wunsch oder mit der gebotenen Fairness abgelaufen war – schnell, rasend schnell hatte es gehen müssen, die Rechtsprechung hatte auf wackligen Füßen gestanden, die Bürger der Siegermächte waren von verständlichen Emotionen wie Vergeltung, von niederen Gefühlen wie Heimzahlen und Aufrechnen keinesfalls frei gewesen. Vor weiteren Anwürfen, die nur er selbst an sich richten konnte, musste er fortan auf der Hut sein und aufpassen, nur ja nicht auf einmal dünnhäutig zu werden. Oder angreifbar. Nun war sein Name regelmäßig in den Zeitungen des Landes zu lesen und sein Konterfei auf so mancher Titelseite abgebildet gewesen, und an diesem misslichen Umstand hatte sich auch in der jüngsten Vergangenheit nichts mehr ändern lassen können.

      Rupert musste mit seiner Berühmtheit weiterleben, ob er wollte oder nicht. In den Folgejahren machte er seinen Frieden mit diesem neuen Status. Übte Nachsicht mit seinen Anhängern. Ließ es zu, dass die Würdigung seines Tuns so manches Mal überhandnahm. Ließ sich dazu hinreißen, ganz selten nur kam das vor, die „Beaufort!“-Rufe zu genießen, die ihn an Samstagabenden entgegenschallten. Nur für Stuart und Burt war er einfach Rupert. Und für Ruth, na klar. Sonst durfte sich niemand eine solche Vertraulichkeit herausnehmen.

      Für den Struggler, begehrt wie nie zuvor, zahlte sich seine Reputation auf alle Fälle aus – die Gäste standen Schlange, wollten dem bunten Hund Beaufort die Hand schütteln und ihre Komplimente loswerden.

      Bald gehörte es zum guten Ton in Manchester und Umgebung, hier nach Arbeitsschluss vorbeizuschauen, sich ein paar Gläschen zu genehmigen und gesehen zu werden. Es wurde Kult, im Strugg­ler für eine große Anzahl Freunde oder Kollegen eine Runde zu schmeißen. Selbst mit einem Champagnervorrat musste sich Rupert eindecken – ein edles Gesöff, das früher nie jemand bestellt hatte.

      Nach ein paar Monaten konnten Ruth und er sich sogar eine Bedienung leisten und zusätzlich einen jungen Mann, der an den Wochenenden spülte und den Laden sauber hielt. Der Pub hatte sich als Goldgrube erwiesen.

      Einige Jahre später zogen die Beauforts aufs Land und wurden Pächter einer viel größeren Kneipe. Hier war der Rummel erträglicher, auch wenn die hartnäckigen Fans aus Hollinwood, treu wie sie waren, ihnen nachreisten und Wochenende für Wochenende die Bude einrannten. Auf sie war Verlass. Was Rupert rührte.

      Ganz ohne Sensationstouristen, die sich gemeinsam mit ihm ablichten lassen wollten, wobei sie mit albernen Gesten sich die Hand an die Kehle legten oder den Kopf hängen ließen und die Zunge herausstreckten, um eine Hinrichtung nachzuahmen, ganz ohne die Horrorfans ging es auch in Much Hoole nicht ab. Egal, da musste Rupert durch. Machte gute Miene zum bösen Spiel. Blickte mit gespielter Verzweiflung in die Kamera. Ein kleines Häuschen war nun auch drin für ihn und seine emsige Frau. In dem sie es sich bequem machten. Much Hoole war nicht der Nabel der Welt, Preston, etwas weiter nördlich, auch nicht, aber auf den Stress der Großstadt und auf das hektische Vorstadttreiben konnten die beiden, unterdessen im mittleren Alter angelangt, gut verzichten.

      Wohlhabender als seine Familie in Clayton, wo er geboren, und in Huddersfield und Failsworth, wo er aufgewachsen war, waren Ruth und er mittlerweile allemal. Und auch ein ganzes Stück glücklicher, wie ihm schien.

      Rupert störte es nicht, dass er nach Schließung des Lokals, eine Viertelmeile von ihrem Cottage entfernt, allnächtlich noch einen kleinen Bummel absolvieren musste, bevor er endlich alle viere von sich strecken und sich ausruhen konnte. Dieser kurze Spaziergang, auch an kalten, sternenklaren Winterabenden, zwischen verrauchter Bude und trautem Heim tat ihm gut, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Schuf Abstand zwischen dem Geplänkel im Pub und der ersehnten Nachtruhe, Seite an Seite mit Ruth.

      Aus den armen Kämpfern, aus dem Lieferanten und der Hilfskrämerin war ein zufriedenes Ehepaar geworden, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Ziemlich weit hatten sie, der ehemalige Fahrer und die ehemalige Verkäuferin, es gebracht. Eine ansehnliche Laufbahn absolviert.

      Nicht dass sie über die Stränge schlugen. Eine Woche Brighton oder ein paar Tage Blackpool pro Jahr, ein Wochenendausflug nach Birmingham, ein Kurztrip zur Hadrian’s Wall lagen im Bereich des Möglichen. Wenn ihnen Pub und Henkergeschäft überhaupt Zeit dafür ließen.

      Sie waren es zufrieden – denn mit den Hinrichtungen allein wurde man weiß Gott nicht reich. Henker waren keine Beamte, ein Grundgehalt gab es nicht, und bezahlt wurde, neben Spesen, allein die erfolgte Hinrichtung: als Einzelleistung. Nicht mehr als ein Zubrot sprang dabei heraus. Eine Aufwandsentschädigung, wenn man so wollte. Eine Besoldung war auch für die besten unter den Scharfrichtern nicht vorgesehen.

      Es war und blieb ein Handwerk ohne goldenen Boden. Nur in den Nachkriegsjahren hatten die Massenexekutionen Rupert kurzzeitig die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzu­stand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste.

      Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde.

      Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch.

      Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche.

      Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung.


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