Agatha Christie. Barbara Sichtermann
Archie das Wochenende mit Freunden verbrachte – zu denen auch seine junge Golfpartnerin zählte. Sie fuhr auf das Haus zu, sah das Licht darin, fuhr weiter und in den Wald, hielt an, stieg aus und ließ den Wagen einen Hügel abwärts auf einen Steinbruch zurollen, bis er in einem Busch zum Stillstand kam. Sie kämpfte sich aus dem Wald heraus, erreichte die Landstraße und marschierte bis Chilworth, wo sie am Bahnhof auf den Zug nach London wartete. An der Station Waterloo warf sie den Brief an ihren Schwager Campbell ein. Danach setzte sie sich in aller Seelenruhe in den Zug und fuhr nordwärts in den Kurort Harrogate. Dort besorgte sie sich ein paar neue Kleider und mietete sich im Hydropathic Hotel ein unter dem Namen Mrs Teresa Neele aus Kapstadt.
Sie war vor sich selbst geflüchtet. Mrs Christie wollte sie für den Moment nicht mehr sein. Stattdessen hatte sie sich den Nachnamen ihrer Rivalin übergestreift – eine Tarnung und zugleich ein Appell: Archie, ich bin hier, und ich bin die Frau, die du liebst. Das Hotelpersonal war höflich, das Zimmermädchen freundlich, im Salon wurde des Abends soupiert und Karten gespielt, ein kleines Orchester machte Musik, und die Gäste tanzten. Die attraktive Mrs Neele wurde eingeladen, mitzutun, und sie zierte sich nicht, sondern sang sogar auf der Bühne. Derweil las sie in der Zeitung von der verschwundenen Agatha Christie und wunderte sich. Das hatte sie nicht vorausgesehen: dass man landesweit nach ihr suchen und die Presse den Fall derart aufbauschen würde. Der arme Archie! Er hasste alle Arten von Publicity und hatte wohl jetzt eine schwere Zeit. Warum auch erschien er nicht endlich in der Tür des Hydropathic Hotel?
Es war nicht so gekommen, wie Agatha es sich ausgemalt hatte. Schwager Campbell hatte den Brief achselzuckend weggeworfen und nicht mit Archie telefoniert. Ihre Familie stand schreckliche Ängste aus, denn sie wussten ja alle, dass die Trennung bevorstand, und so fürchtete man, dass die verzweifelte Agatha den Freitod gewählt habe. Auch der Polizeikommissar rechnete nicht damit, Agatha lebend aufzufinden – wobei er sich insgeheim darauf freute, den arroganten Ehemann wegen Mordverdachts zu verhaften. Aber die große Publizität, die das Verschwinden der beliebten Schriftstellerin inzwischen erlangt hatte, sorgte dafür, dass immer mehr Engländer ihr Bild vor Augen hatten. Das Zimmermädchen schöpfte Verdacht und besprach sich mit der Rezeptionistin. Die wiederum vertraute sich dem Orchester an. Zwei Musiker waren es schließlich, die die Polizei verständigten. Der Kommissar rief Archie an, und der fuhr schnurstracks nach Harrogate. Am 13. Dezember stand er Agatha in der Lounge gegenüber. Er hatte sie gefunden. Aber hatte er zu ihr gefunden? Wie in Trance gab sie ihm ihre Hand. Und er bestätigte gegenüber der Polizei und der Presse: Ja, sie ist es, meine Frau. Um die Fotografen und Journalisten abzuschütteln, verließen die zwei das Hotel durch den Hintereingang und fuhren, um ihre Spur zu verwischen, erstmal nach Abney Hall nahe Manchester, wo Madge Watts lebte, Agathas Schwester.
Die Öffentlichkeit war empört. Was hatte man nicht alles in die Wege geleitet, um die Vermisste zu finden, und jetzt stellte sich heraus, dass sie eine Art Spiel gespielt und alle, ihren Mann, die Ermittler, die Medien, an der Nase herumgeführt hatte. Die Zeitungsschreiber beschimpften sie und unterstellten ihr, sie habe durch ihr Untertauchen bloß auf sich und ihre Bücher aufmerksam machen wollen, das Ganze sei ein PR-Gag gewesen. Ihr Mann gab eine offizielle Erklärung ab: Seine Frau habe kurzzeitig ihr Gedächtnis verloren und könne für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Und Agatha selbst? Sie wusste nun, dass ihr Ehemann nicht zu ihr zurückkommen würde und willigte in die Scheidung ein. Sie vergaß nie die Schmerzen, die sie um Archies willen erleiden musste und erkannte an, dass sie, wenn sie auch ihr Gedächtnis nicht verloren, so doch sich in zwei Personen aufgespalten hatte: in Agatha Christie, die nicht mehr auf der Welt sein wollte und in Teresa Neele, die auf den Mann wartete, der sie liebte. Sie erkannte, dass die Menschen in sich widersprüchlich und nach außen hin mehrdeutig sind. Sie hatte ein neues Thema gefunden, das sie in ihren Büchern variieren wollte und das genauso bedeutsam für den Verlauf der Handlungen in ihren Krimis sein würde wie die Aufrechterhaltung der Spannung: Die menschliche Natur.
I
Ashfield
»Das ist ja eine wunderbare Nachricht«, sagte Clara Miller und schloss ihre Tochter fest in die Arme. »Ich wusste es. Du hast die Gabe. Agatha, du hast die Gabe. Und du darfst Mr Philpotts vertrauen. Wenn er sagt, dass du schreiben kannst, dann ist das so. Sein Urteil ist absolut vertrauenswürdig. Hast du den Brief dabei? Lies mir daraus vor!«
Agatha küsste ihre Mutter auf die Wange, löste sich aus der Umarmung und fiel in einen Gartenstuhl. Sie genoss eine rare Empfindung von Stolz und Anerkennung, die sie sogar in den Fingerspitzen wahrnahm. »Hier, Mama«, sagte sie und zog ein Blatt Papier aus der Rocktasche, »er schreibt, ich hätte Talent für den Dialog! Er übt auch Kritik, er hält nicht hinterm Berg. Warte –«, sie faltete den Brief auseinander, »hier steht: ›Versuchen Sie, moralische Betrachtungen aus Ihren Romanen herauszuhalten. Sie haben viel zu viel dafür übrig, und nichts liest sich langweiliger.‹«
»Na, da hat er recht.«
»Aber dann kommen wieder Worte wie ›ausgezeichnet‹. Und er meint, ich solle de Quinceys ›Bekenntnisse eines englischen Opiumessers‹ lesen, die Lektüre würde mein Vokabular vergrößern.«
Clara ging auf der Terrasse hin und her. Sie strahlte. »Ich werde zu ihm rübergehen und mich bei ihm bedanken, dass er ihn gelesen hat, deinen Roman, und dann auch noch so sorgfältig. Und dass er dir geschrieben hat. Snow upon the Desert. Wenigstens einen Leser außer mir hat dein Buch gefunden. Ein wahrer Freund, Mr Philpotts.«
Agatha lächelte. »Das ist er. Und weißt du was, Mama? Den Zuspruch konnte ich gebrauchen. Du … äh … kannst es dir ja denken … Ich bin noch nicht ganz darüber weg.«
»Soll ich dir ehrlich die Meinung sagen, darling?«
»Das tust du doch immer, Mama.«
»Wenn ich zu wählen hätte, für mich selbst oder für meine Tochter, zwischen der Begabung für den Gesang oder die Poesie, für die Opernbühne oder die Literatur, ich würde immer die Literatur wählen. Was bedeutet es denn für eine Frau, wenn sie zur Oper geht? Jede Menge Kraftakte, sage ich dir, mein Herz. Die Abende gehören dem Publikum, die Tage den Proben, und trotz all deiner Mühen ziehen die Kritiker vom Leder und treiben dich zur Verzweiflung. Die Theaterdirektoren wollen mit ihren Primadonnen Geld verdienen, sie kommen ständig mit neuen Extravorstellungen, und statt Urlaub zu machen, muss die Sängerin auf Tournee gehen. Wie soll sie all das mit einer Ehe und einer Familie vereinbaren? Das ist so gut wie unmöglich. Aber auf Heirat und Kinder zu verzichten – das ist erst recht unmöglich. Das wäre ein Opfer, wie es von keiner Frau in der ganzen Welt erwartet werden kann.«
Agatha stimmte zu. Sie dachte kurz an den Papa, an den liebevollen Bonvivant, als der er bei jedermann in Erinnerung war und an das sanfte Glück, das sie verspürt hatte, wenn sie als Kind, je eines ihrer Händchen in den Händen von Mutter und Vater, mit beiden spazieren ging. Mama hatte recht wie stets. Dennoch schmerzte die Erinnerung an das Vorsingen neulich und das Urteil der Lady von der Metropolitan Opera.
»Vielleicht«, seufzte sie, »ist es wirklich besser für mich, wenn ich keine Sopranistin werde. Aber ich möchte offen sein. Hätte ich mir nicht sagen lassen müssen, dass meine Stimme zu schwach sei für die Oper – ich hätte es versucht, Mama. Ich hätte die Ausbildung zu Ende gemacht. Obwohl ich nie, wirklich niemals, daran gedacht habe, wegen einer Bühnenlaufbahn ledig zu bleiben. Ich weiß, das ist nicht konsequent und vielleicht sogar verrückt, aber ich hatte mir eingebildet, ich könnte beides haben: abends die Tosca singen und morgens mein Kind wiegen.«
»Bis der Ehemann die Abende mit einer anderen verbringt! Ja, was soll er denn sonst tun, der arme Kerl? Ich bin sehr froh, dass du eine gute Beratung hattest, dass schon dein Lehrer in Paris nicht den Fehler beging, dich zu ermutigen, obwohl es dann ja doch nicht gereicht hätte mit der Stimme. Und noch froher bin ich, dass du jetzt eine Alternative hast – was deinen künstlerischen Ehrgeiz betrifft. Schreiben kannst du am Küchentisch und wenn die Kinder schlafen. Schreiben ist nichts, was dich um die Welt treibt, das geht zu Hause. Ja, dein Ehrgeiz, Agatha Miller. Der ist nun mal da, mit dem muss sich auch dein zukünftiger Ehemann abfinden.«
Der