Agatha Christie. Barbara Sichtermann

Agatha Christie - Barbara Sichtermann


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Gestalt an – er könnte z. B. Reggie heißen. Genauer: Reggie Lucy. Die Lucys waren eine befreundete Familie, ziemlich unkonventionelle, lebenslustige Leute, die Töchter Blanche und Muriel machten viel mit Agatha zusammen, und dann war da Sohn Reggie. Wenn Agatha bei den Lucys vorbeikam und mit Blanche oder Muriel im Garten saß und einen Wochenendausflug plante oder die Mädchen miteinander für eine Laientheateraufführung probten, kam er immer dazu. Er übte sich in Wortwitzen, die manchmal nicht zündeten, wofür er sich dann schämte. »Er ist sonst nie so komisch«, flüsterte Blanche Agatha zu, »er redet so, um dir zu imponieren.« Aber er, der Ehemann, könnte auch ganz anders heißen, etwa Bolton Fletcher. Sie hatte den Oberst auf einem Kostümball kennengelernt, wo sie als schöne Helena in weißer Tunika Eindruck machte und er in seiner Jagduniform auftrat – ein gut aussehender Mann Mitte dreißig. Er schrieb ihr Liebesbriefe und schickte Pralinen, Blumen und Bücher. Er war so stattlich und weitgereist. Und offenbar sehr von ihr angetan. Ferner war da Wilfred Pirie, der sie geduldig umwarb. Ihrer beider Mütter waren befreundet, und Wilfred, Oberleutnant zur See, lief mit seinem U-Boot häufig Torquay an – das schöne Torquay, Agathas Heimat, in der sie zu bleiben hoffte, ein Leben lang. Mit Wilfred an ihrer Seite? Als Mrs Pirie? Oder Mrs Fletcher? Oder gar Mrs Lucy? Dann würden die abenteuerlustigen Lucy-Mädchen ihre Schwägerinnen sein. Aber das war kein Grund, eine Ehe einzugehen. Agatha war ein bisschen enttäuscht von sich selber – dass da keine Leidenschaft in ihr wuchs, kein Sehnen, kein Verlangen. Reggie? War wirklich sehr nett, aber zu jung. Fletcher? »Ich bin von ihm restlos bezaubert«, so beschrieb sie ihr Gefühl, »und dennoch, wenn er fort ist und ich in seiner Abwesenheit an ihn denke, bedeutet er mir – nichts.« Als der Oberst sie geradeheraus fragte, ob sie seine Frau werden wolle, gab sie ihm einen Korb. Also Wilfred. Für ihn sprach manches. War er doch tüchtig und zuverlässig und gewohnt, für eine Familie zu sorgen, denn sein Vater war lange schon tot. Während Agatha die Aussicht prüfte, als Mrs Pirie zu leben, entdeckte sie, dass es Lilian Pirie, die Mutter des Kandidaten und enge Freundin Claras war, auf deren Nähe sie sich gefreut hätte … Ich empfinde also Wilfred als Bruder‹, dachte sie, das ist keine Basis für eine Ehe‹. Also blieb ihr nichts übrig, als erst einmal ihren Platz im alten Schulzimmer wieder einzunehmen, wo sie Klavier spielte oder am Pult saß und Geschichten schrieb. Einige hatte sie an Zeitschriften mit der Bitte um Veröffentlichung gesandt – sie waren alle zurückgekommen. Jetzt aber, nach der Ermutigung durch Eden Philpotts, der nicht nur ein netter Nachbar der Millers war, sondern auch ein angesehener und erfolgreicher Schriftsteller, hatte Agatha neue Zuversicht gefasst. Snow upon the Desert, der Roman, den sie Mr Philpotts hatte zukommen lassen, spielte in Kairo, wo sie selbst eine ganze Saison lang gelebt hatte und sich auskannte. Es war eine Dreiecksgeschichte mit überraschenden Wendungen und einer gehörlosen Heldin. Jetzt wollte sie etwas weniger Ausgefallenes, etwas Schlichteres versuchen, und der Schauplatz sollte England sein, vielleicht London oder die Gegend um Torquay. Sie spitzte ihren Bleistift und notierte sich Namen für die Hauptpersonen. Bis der Gedanke an Mr X, den ebenso willkommenen wie einstweilen noch unbekannten Ehemann, sie wieder ablenkte. Sie schaute aus dem Fenster über den Garten und auf die Terrasse mit den Korbstühlen, sie legte eine Hand auf das Fensterbrett vor ihr. Vielleicht‹, dachte sie, verliebe ich mich deshalb nicht, weil mein Herz schon vergeben ist. An Ashfield. Ich könnte doch niemals von hier fortgehen. Wenn ich träume, dann immer von Ashfield, die Umgebung, in der mein Leben begann. Der ausgefranste rote Teppich, der die Küche vom Gang trennt, das kupferne Gitter mit den Sonnenblumen am Kamin in der Diele, der türkische Teppich auf der Treppe, das große schäbige Schulzimmer mit seiner reliefartigen blaugoldenen Tapete. Etwas in mir sträubt sich gegen den Ehemann und das Eheleben, weil ich ja dann nicht mehr in Ashfield leben könnte.‹ Und sie murmelte einen Vers vor sich hin, von dem sie nicht mehr genau wusste, woher sie ihn hatte: »Ô ma chère maison, mon nid, mon gîte, / Le passé t’habite …«, und während sie leise so sprach, stieg es in ihr hoch, das Gefühl, das sie so sehr vermisste, wenn sie an Reggie oder Bolton oder Wilfred dachte. Das Gefühl der Zugehörigkeit, der Nähe, der Liebe. Es galt ihrem Haus.

      Die prachtvolle viktorianische Villa mit Namen Ashfield, lag in Torquay, Grafschaft Devon, ein Städtchen, das im späten 19. Jahrhundert ein elegantes Seebad war. Vater Frederick Miller, der aus Amerika stammte, war sehr beeindruckt von der Schönheit des Ortes und der heiteren Gelassenheit seiner Menschen; Torquay half ihm dabei, ein Engländer zu werden. Eigentlich wollte er mit seiner jungen britischen Frau Clara in den Staaten leben, aber sie entschied sich für die englische Riviera, und da Frederick ein äußerst verträglicher Mitmensch und Ehemann war, stimmte er zu. Das Haus Ashfield mit dem großen Garten hatte Clara ebenfalls ausgesucht, und sie richtete es voller Hingabe im großbürgerlichen Stil der Zeit, mit Samtportieren, schweren Büfetts und schimmernden Kristalllüstern ein. Alle ihre drei Kinder kamen hier zur Welt: die älteste Tochter Margaret, genannt Madge, Sohn Louis Montant, genannt Monty, und schließlich, am 15. September des Jahres 1890, das Nesthäkchen Agatha Mary Clarissa. Die Kleine wuchs auf, wie es damals üblich war in der englischen Gentry: Wenn sie Zeit mit den Eltern verbrachte, so erschien es allen als etwas Besonderes wie ein Sonntag. Den Alltag brachte sie mit Nursie zu, ihrer Kinderfrau, der sie rückhaltlos zugetan war. Nursie war schon alt, dabei unendlich lieb und geduldig. Sie las Agatha aus der Bibel vor, ging mit ihr in den Garten und zum Einkauf in den Ort, Nursie fütterte sie und brachte sie zu Bett, tröstete und streichelte sie und erklärte freundlich alle Rätsel der seltsamen Welt. Und dann war da Jane, die Köchin, die wohlbeleibte Herrscherin über die Küche und die Vorratskammer, auf deren Schoß Agatha Cremetörtchen probieren und Sirup umrühren durfte. Auch der Gärtner hatte das Kind gern, aber da er öfter ziemlich brummig war, hatte Agatha vor ihm ein bisschen Angst. Schwester Madge war elf Jahre älter als Agatha und Bruder Monty zehn Jahre, somit fielen die Geschwister als Spielkameraden für die Jüngste aus. Gewiss, die beiden waren da, Madge las Agatha selbst verfasste Märchen vor und Monty spielte mit ihr Gespenst, aber so unverhofft die beiden sich ihr zuwandten, so schnell waren sie wieder auf und davon, wenn ihre gleichaltrigen Freunde sie riefen. Solche Freunde gab es für Agatha nicht. Das Mädchen war arg schüchtern, Versuche, sie mit Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen, fruchteten nicht, und Nursie hatte dazu auch wenig Neigung. Sie war am liebsten mit ihrem Schützling allein, und Agatha war gern allein mit ihr. Mit ihr und mit sich selbst und mit Hund Toni. Sie konnte stundenlang im Garten mit ausgedachten Spielgefährten, mit Kobolden und Feen und fiktiven gleichaltrigen Mädchen Spiele spielen und unter Büschen Geschichten ersinnen und aus bunten Steinen Figuren legen, manchmal waren Buchstaben dabei. Auch das Haus bot viel Abwechslung. Da war das Klavier, auf dem sie klimpern durfte so viel sie wollte, da waren die Zimmer, in die sie eigentlich nicht hineindurfte, das Herrenzimmer, die Ankleidezimmer, das Rauchzimmer, die Wäschekammer und die Abseiten, aber niemand schalt sie aus, wenn sie sich dort hineinschlich, alle lächelten nur. Und dann war da das Schulzimmer mit der Tafel und dem Globus. Und die Bibliothek! Als sie ein wenig größer war, setzte sie sich auf den Boden am Fuß eines mächtigen Regals, nahm einen Band heraus und blätterte vorsichtig – sie guckte nicht nur nach Bildern, sondern auch nach Wörtern. Madge las ihr hier Alice im Wunderland vor und zeigte auf Wörter, und Nursie erklärte ihr beim Einkauf die großen Zeichen auf Plakaten und über den Kaufläden, da stand »Heute neu« und »Äpfel« und »Bäckerei«. Jetzt entdeckte Agatha die Buchstabenfolgen in den Büchern wieder und war ganz aufgeregt. Manchmal spielte sie in der Bibliothek nur, dass sie ein Kätzchen sei und mit anderen Kätzchen eine Reise entlang der Stuhlbeine unternahm, aber dann kam sie wieder auf die Bücher zurück und träumte über den gedruckten Seiten.

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      Agatha Christie als Kind.

      Bücher galten zu jener Zeit als Quellen wichtiger Erkenntnis und schöner Erbauung, aber auch von gefährlicher Reizung der Phantasie – weshalb Kinder nicht zu früh in die Kunst des Lesens eingeführt werden sollten. Für Töchter war ohnehin keine schulische Bildung vorgesehen. Was sie zu lernen hatten, konnte man ihnen daheim vermitteln, es sei denn, sie zeigten in irgendeiner Disziplin besondere Begabung – dafür wurde dann ein Hauslehrer engagiert oder eine Gouvernante. Bei Agatha galt es erstmal abzuwarten, das stille, in sich gekehrte Kind zeigte scheinbar keine besondere Wissbegier. Bis die Fünfjährige auf Nursies Schoß plötzlich bei der Bibellektüre Worte zu entziffern vermochte


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