Agatha Christie. Barbara Sichtermann
ein. Eines Abends, als sie im Pavillon an der Seepromenade Tee getrunken und sich von ihren Stühlen erhoben hatten, sagte er zu ihr mit ernster Miene: »Bitte heirate mich, Agatha!« Sie konnte gerade noch Ja sagen, dann kamen seine Arme und sein Kuss.
Agatha nannte ihre beiden Novellen, die sie für die kritischen Augen von Eden Philpotts ein letztes Mal überarbeitet hatte Vision (englisch: Vision) und Was für ein Eigensinn (englisch: Being so Very Wilful) und machte eine Randnotiz, in der sie Philpotts bat, es mit der Rechtschreibung nicht so genau zu nehmen, das könne man alles korrigieren. Diesmal brachte sie die Manuskripte ihrem Nachbarn selbst. Der Schriftsteller saß in einem Sessel am Fenster, er litt unter Gelenkbeschwerden und ging nur selten aus. Er bot Agatha den zweiten Sessel an.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihr neues Werk«, sagte er. »Es kommt öfter vor, dass mir Manuskripte zur Begutachtung zugesandt werden. Meistens schicke ich sie mit ein paar Worten des Bedauerns zurück, denn meine Kräfte schwinden, ich kann nicht mehr allen gerecht werden. Aber auf Ihr Manuskript freue ich mich tatsächlich, da ist Leben im Text.«
Agatha errötete und stotterte: »Da-danke.«
»Man hört ja so dies und das«, fuhr Mr Philpotts fort, »und unsere Haushälterin ist sehr redselig. Es heißt, Sie hätten sich verlobt?«
Agatha lächelte und sagte: »Ja, ich bin verlobt und hoffe, bald zu heiraten. Und wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich unglücklich bin«, fügte sie, plötzlich entschlossen, ihrem Mentor die ganze Wahrheit zu sagen, hinzu, »dann dürfen Sie nicht denken, es sei wegen der Wahl, die ich getroffen habe. Es liegt daran, dass ich mich doppelt verlobt habe.«
»Nun, solange Sie nicht beide Männer heiraten, begehen Sie keine Straftat.«
»Das ist es ja. Ich muss einen von beiden furchtbar vor den Kopf stoßen.«
»Ich nehme an, derjenige, den Sie nicht heiraten wollen, ist der sympathische Lucy-Sohn, der derzeit in Indien stationiert ist?«
Agatha nickte. »Ich mag ihn sehr gern, wissen Sie. Deshalb steht es mir so bevor –«
»Verständlich, verständlich. Und der Glückliche, dem Sie Ihre Hand geben, ist dieser Leutnant aus Bristol vom Fliegerkorps, nicht wahr? Ein Pilot … Das ist natürlich ganz was anderes als ein Kanonier.«
»Es ist nicht nur das. Ich –«
»Natürlich. Sie lieben diesen Flieger, und Lucy ist nur sympathisch. Sie machen es richtig. Und wenn Sie in Zukunft nicht mehr so viel zum Schreiben kommen, dann grämen Sie sich nicht. Leben Sie, lieben Sie –« Er sah aus dem Fenster und murmelte: »Ich sah Sie da neulich entlanggehen mit Ihrem feschen jungen Mann. Da wusste ich: Ihre Leidenschaft für die Literatur hat Konkurrenz bekommen.«
Schon eine Woche später erhielt Agatha einen Brief von Eden Philpotts. Er schrieb:
»Liebe Agatha, ich möchte über Ihre Geschichte ›Being so Very Wilful‹ nicht in technische Details gehen, aber ich freue mich, sagen zu können, dass sie einen stetigen Fortschritt zeigt. Sie haben hart gearbeitet, und Sie haben ein natürliches Empfinden für Aufbau und Gleichgewicht. Tatsächlich entwickelt Ihre Arbeit sich so gut, und falls Ihr Leben sich als eines erweist, in dem für die Kunst Platz ist und Sie den schweren Weg nach oben wagen und gewinnen wollen, haben Sie jedenfalls genug Talent. Ich mache keine Prophezeiungen, aber ich schätze, wenn Sie bereits jetzt so schreiben können, werden Sie es weit bringen. Doch das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus, und Ihre zukünftigen Lebensumstände lassen Sie vielleicht einen anderen als den harten Weg der Kunst einschlagen. Wie auch immer –« Der Brief war sehr lang und ausführlich und enthielt etliche Lektüre-Empfehlungen, darunter Gustave Flauberts Madame Bovary. Er schloss mit: »Besuchen Sie mich, wenn Sie möchten und wenn Sie etwas wissen wollen oder Zeit für mehr Bücher haben. Ihr Freund Eden Philpotts«.
Agatha saß allein im Schulzimmer, als sie den Brief las. Sie küsste ihn nach dem Lesen und stand dann auf, um ihn Clara zu zeigen. Sie lachte laut, als sie die Treppenstufen runterlief. Clara las und lachte und wiederholte inbrünstig die lobenden Passagen. »Darling«, rief sie, »wie wunderbar! Am liebsten würde ich diesen Brief in die Zeitung setzen lassen. – Aber was meint Mr Philpotts, wenn er schreibt: Das Leben treibt einer ganzen Zahl von Leuten die Kunst aus …?«
Agatha setzte sich auf die Lehne von Claras Sessel. »Ich habe ihm erzählt, dass ich meine erste Verlobung lösen muss und dass ich heiraten werde, verstehst du? Er hat auch gesagt, er hätte mich mit Archie gesehen, von seinem Fenster aus.«
»Zu Reggie bist du auf Abstand gegangen, als du gefürchtet hast, er würde dich nicht singen lassen. Meinst du, Archie könnte was dagegen haben, dass du schreibst?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was heißt das nun, Mama? Dass ich ganz sicher bin: Er wird nichts dagegen haben? Oder dass es mir egal ist und ich nachgeben würde, wenn er was dagegen hätte?«
Es wurde eine stürmische Verlobungszeit, sie dauerte anderthalb Jahre. Agatha schrieb Reggie, dass sie die Verbindung mit ihm lösen müsse, und Reggie schrieb zurück, er sei ein Idiot gewesen, sie nicht sofort geheiratet zu haben. Als Agatha das las, weinte sie und machte sich dann hübsch für Archie. Der seinerseits hatte nach Rücksprache mit seinem Ausbilder nun doch Bedenken, sofort zu heiraten: das Militär fürchtete Versorgungsansprüche von Witwen und bevorzugte unverheiratete Anwärter, also hatte man Archie nahegelegt, sich jetzt noch nicht zu binden. »Es ist nur bis zur Abschlussprüfung«, sagte er zu Agatha, aber die war erneut schwer enttäuscht. Archie bot ihr an, sie freizugeben, was die Ärmste nur noch unglücklicher machte. Als aber Clara in dasselbe Horn stieß, weil sie wusste, dass Archie mit seinem jetzigen Sold niemals einen standesgemäßen Hausstand gründen könne, fügte sich Agatha in eine längere Wartezeit. Dann geschah es, dass Claras Mutter nach Ashfield ziehen musste, weil sie erblindete und nicht mehr allein zurechtkam und die Verhältnisse im Hause nun noch enger wurden. Es fehlte an Geld, Personal musste entlassen werden. Agatha sah ein, dass sie künftig im Haushalt mitarbeiten müsse und dass sie, wie die Dinge lagen, moralisch nicht berechtigt sei, Ashfield zu verlassen. Ihre Zweifel gipfelten in dem Vorschlag, jetzt ihrerseits die Verlobung zu lösen. Clara war hin- und hergerissen. Sie wollte Agatha nicht verlieren, ihrem Glück aber auch nicht im Wege stehen. Archie war empört über diese Wendung der Dinge und widersetzte sich der Trennung in aller Entschiedenheit. »Niemand kann für mich das sein, was du für mich bist«, schrieb er ihr, »vergiss mich nie, mein Liebling und liebe mich in alle Ewigkeit.« Zur Not würde er seine Braut entführen. Für Agatha war das genau die richtige Ansage. Aber als sie sich an ihr Pult setzte, um Archie nach Netheravon, wo er seine Übungen absolvierte, einen Liebesbrief zu schreiben, kam Clara mit einer Neuigkeit herein, die sie eben vom Markt in Torquay mit nach Hause gebracht hatte: Auf dem Kontinent war der Krieg ausgebrochen. Es werde auch in England zur Mobilisierung kommen.
II
Archie
Das Fliegerkorps wurde zuerst eingezogen, Archie wartete auf seinen Marschbefehl. Der kam sehr bald: Seine Staffel musste von Southampton aus nach Frankreich starten, es ging los. Agatha und Archie trafen sich ein letztes Mal Anfang August in Salisbury, sie konnten einander nur wenig sagen und beließen es dabei, sich in den Armen zu halten und die Tränen zu verbergen. Es war eine Trennung, ohne dass die Trauung vorausgegangen war, ohne dass sie einander schon angehörten. ›Ich schaffe es einfach nicht zu heiraten, was ist bloß los mit mir?‹, dachte Agatha, ›dabei möchte ich nichts auf der Welt so gerne. Ich habe es mir immer wieder ausgemalt, stand auch schon kurz davor – mit Bolton, mit Reggie und jetzt mit Archie. Aber es wird nie wirklich was draus. Wie in einem Albtraum, wenn man laufen will und die Füße sind am Boden angewachsen. Bin ich etwa die ewige Braut – die nie Ehefrau wird? Werde ich in aller Zukunft eine alte Jungfer sein? Jetzt bin ich schon fast 24!‹ Agatha seufzte und schnupfte in ihr Taschentuch auf der Rückfahrt nach Torquay. Dort entschloss sie sich, etwas zu tun. Schon, um nicht immer an ihre Ehelosigkeit denken zu müssen und daran, ob Archie womöglich abgeschossen worden sei und sie ihn verloren habe. Sie meldete