Agatha Christie. Barbara Sichtermann
mir doch, woran stirbt denn dein armes Mordopfer?«
»Ich denke mal: Strychnin.«
Ideen kamen Agatha im Gehen. Dabei tat sie dasselbe, was sie als Kind getan hatte, wenn sie durch den Garten schnürte und sich Wesen, Gestalten, Personen ausdachte, mit denen sie dann spielte. Sie probierte auch ihre fiktiven Dialoge so im Gehen aus. ›Wenn man ein neues Buch plant, ist nichts besser, als irgendwo einen langen Spaziergang zu machen. Das fehlende Glied in der Kette (englisch: The Mysterious Affair at Styles) schrieb ich gewissermaßen im Gehen. Man kann erst anfangen zu schreiben, wenn man sich die Figuren überlegt und das Gefühl hat, dass sie real sind. Dann kann man mit ihnen durch den Garten spazieren.‹ Lange überlegte sie, in welcher Gestalt ihr Detektiv, den Poirot zu nennen sie sich entschlossen hatte, ihr selbst und dem Lesepublikum begegnen sollte. Eine außergewöhnliche Erscheinung würde er sein, so viel war klar. Sie hatte einmal in der Straßenbahn einem Mann gegenübergesessen, der mit seiner Sitznachbarin französisch parlierte und einen sehr eigenartigen Akzent hatte. Irgendwann redeten die beiden über Brüssel, und es war klar, dass es sich um die Heimatstadt des Mannes handelte. Ein Belgier also. Er war sehr klein und rund, hatte einen Eierkopf und einen großen Schnurrbart. Dieser kleine Herr kam Agatha sogleich in den Sinn, als sie sich entschlossen hatte, ihren Detektiv einen Belgier sein zu lassen. Sie seufzte ein wenig, als sie entschied, Poirot äußerlich nach dem Mann aus der Bahn zu formen, denn der war alles andere als attraktiv. Aber sie hatte keine Wahl, denn sie wusste, dass ihre Phantasie reflexartig auf den kleinen Schnurrbartträger zurückkäme, wenn sie über Poirot schreiben und ihn sich dabei vorstellen würde. ›Er wird die Menschen verstehen und stolz darauf sein‹, dachte sie, ›und ich werde ihm einen Vornamen geben, der in scharfem Gegensatz zu seinem Wuchs steht: Hercule … Er sollte Inspektor in seiner Heimat Belgien gewesen sein, um über eine gewisse Erfahrung in der Verbrechensbekämpfung zu verfügen. Er würde sehr ordentlich, sehr exakt sein, ein Mann, der die Dinge zurechtrückte, sie paarweise anordnete, der eckige Formen lieber hatte als runde. Er sollte sehr intelligent sein, eine Menge kleiner grauer Zellen im Kopf …‹ Nie fühlte sich Agatha so mit sich selbst im Einklang, so leicht und frei, als wenn sie schrieb. Nun, da Hercule Poirot aus ihrer Phantasie in die Schrift übergesprungen war, arbeitete sie in einem enormen Tempo und mit großer innerer Befriedigung.
Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten die Angehörigen der britischen Mittelschicht, überwiegend wohlhabende gebildete Zeitgenossen, in ihrer großen Mehrheit nicht kommen sehen. England war seinerzeit eine Weltmacht, sein Kolonialreich erstreckte sich von Australien über Indien, den Nahen Osten und große Teile Afrikas bis nach Kanada, das alles lernten die Kinder in der Schule oder, wie in Agathas Fall, daheim von den Eltern oder Hauslehrern, und sie fühlten sich entsprechend unangreifbar. Dass dieses Weltreich in einen Krieg hineingezogen werden konnte, schien ganz und gar unmöglich, aber es passierte, und damit ging eine Ära zu Ende. Königin Victoria war schon 1901 gestorben, aber das Viktorianische Zeitalter mit der ihm eigenen Stabilität versank erst 1914, als England gegen alle Wahrscheinlichkeit in einen Krieg eintrat mit all den fürchterlichen Folgen wie Verlusten an Menschen und Material und mit tiefem Leid und Lebensmittelknappheit zu Hause. Wie die meisten Engländer hoffte Agathas Familie auf ein baldiges Ende dieser ganz und gar unbegreiflichen Feldzüge, und als sich die Kampfhandlungen dann doch über Jahre hinzogen, war es das Ende des Krieges, auf das niemand mehr gefasst war. Man hoffte darauf, aber man rechnete nicht mehr damit. Agatha Christie schrieb ihren ersten Kriminalroman mitten im Krieg während der Jahre 1916/17, und sie entwickelte die Handlung nicht zufällig um einen Detektiv, der aus Belgien geflüchtet war und um dessen Freund Major Hastings, der einer Verwundung wegen Fronturlaub hatte. Von überallher strömten damals Menschen, die vom Krieg entwurzelt worden waren, auf die Insel, deren Bewohner ihrerseits um Söhne und Gatten auf dem Kontinent oder in Afrika fürchteten und ihre Ersparnisse von den Banken abzogen, um sie in ihren Geheimfächern zu verstecken. Aber dann war es irgendwann doch so weit. Agatha begab sich gerade auf den Heimweg von ihrem Kursus in der Handelsschule, sie trat auf die Straße und konnte nicht glauben, was sie da sah. Überall in den Straßen tanzten Frauen. Englische Frauen neigen nicht dazu, auf der Straße zu tanzen, aber da waren sie nun, in einer wilden Orgie des Glücks, lachend, schreiend, drängend, springend, in einer zügellosen Euphorie. Es war furchterregend. Man hatte das Gefühl, wenn in diesem Augenblick ein paar Deutsche in der Nähe gewesen wären, hätten die Frauen sie in Stücke gerissen. Wahrscheinlich waren nur einige von ihnen betrunken, aber alle benahmen sich so. Sie wankten, taumelten, jubelten. Es war der 11. November 1918. Der Krieg war vorbei.
Archie war schon im September nach England zurückgekehrt, aus Gesundheitsgründen. Seine Nebenhöhlen gaben auch bei der Artillerie keine Ruhe, außerdem hatte er ständig Magenprobleme, und jetzt war er, mittlerweile im Rang eines Obersten, ins Luftfahrtministerium abkommandiert worden. Selten hatte sich Agatha über eine Nachricht so gefreut wie über dieses Telegramm: «Ich komme nach Hause, stop. Archie.« Und von Clara erfuhr sie, dass sich Bruder Monty, der in Afrika verwundet worden war, auf dem Wege der Besserung befand. ›Unsere Familie hat Glück gehabt‹, dachte Agatha. Sie und Archie wollten sich in London niederlassen, sie suchten eine Wohnung – so wie ganze Scharen demobilisierter Soldaten mit und ohne Familie. Die Bleibe musste preiswert sein, denn Agatha und Archie waren nicht reich. Archies Sold war mäßig, und Agatha hatte nur ihr sehr bescheidenes Erbe. Aber beide waren zuversichtlich. »Ich werde einmal viel Geld verdienen«, brüstete sich Archie, und Agatha sagte sanft: »Hauptsache, wir sind zusammen.« Bald fanden sie ein passendes Apartment in London, Madison Mansions, und richteten es mit Elan ein. Archie ging Tag für Tag ins Ministerium und versah dort seinen Dienst, aber er teilte Agatha mit, dass er sich nach etwas Besserem umsehe und dass er kündigen werde, sowie er in der City einen Posten gefunden hätte. Verdiente Offiziere wurden bei Unternehmen und Banken gerne eingestellt. Agatha bewunderte Archies Pragmatismus. Sie war davon ausgegangen, dass das Militär seine Heimat sei, aber jetzt, wo der Krieg aus war, wollte er ins zivile Leben, dorthin, wo Geld verdient wurde und er keine Uniform tragen musste.
An einem Winterabend saßen er und Agatha zusammen in ihrem Wohnzimmer, das nach Ashfield-Maßstäben klein war, für sie selbst aber eine große Freude, und Agatha sagte zu ihrem Mann: »Ob du es glaubst oder nicht, ich habe einen Roman geschrieben. Einen Kriminalroman mit einem äußerst rätselhaften Fall und einem bemerkenswerten Detektiv. Ob du den lesen würdest?«
Archie kniff die Augen zusammen und sagte: »Wirklich?« Agatha nickte. Und er: »Na, her damit.« Agatha stand auf, um das Manuskript von Das fehlende Glied in der Kette zu holen. Sie war gar nicht besonders erleichtert über Archies Bereitschaft, ihr Buch zu lesen, denn sie hatte nichts anderes erwartet. »Hier«, sagte sie und legte ihm den dicken Papierstapel auf den Schoß, »schau mal rein, ich habe alles selbst mit der Maschine getippt.« Ehrfürchtig strich er über das Konvolut und sagte: »Alle Achtung«.
Nun kam Archie öfter mit nach Ashfield. Einmal, während Agatha die neue Köchin zum Wochenmarkt begleitete, saß er mit Clara beim Tee im Esszimmer und sagte zu ihr:
»Es tut mir leid, liebe Schwiegermama, dass ich so lange so abweisend war. Aber du darfst nicht vergessen, dass du versucht hast, mich aus dem Feld zu schlagen und stattdessen diesen Reggie …«
Clara fiel ihm ins Wort. »Schnee von gestern. Du musst dich nicht entschuldigen, Archie. Ich möchte dir aber etwas sagen, was dich vielleicht überrascht. Wahrscheinlich hat Agatha dir von meiner Kindheit erzählt, dass ich weggegeben wurde und darunter gelitten habe –«
»Ja, das hat sie.«
»– und dass ich es deshalb nicht vertrage, mich von meinen Kindern zu trennen. Aber das ist nicht so, Archie. Ich habe Madge gehen lassen und Monty, und ich musste mich von meinem Mann trennen, den mir der Tod geraubt hat, das war sehr schwer. Aber ich habe es durchgestanden. Mit Agatha ist es etwas anderes.«
Weil Clara eine Pause machte, im Wohnzimmer umhersah und auf ihrer Unterlippe kaute, fragte Archie: »Was ist es denn?«
»Ich habe Agatha hier in Ashfield noch eine Weile behalten wollen – nicht, weil ich mich nicht von ihr hätte lösen können, sondern weil ich es richtig fand, sie noch ein wenig länger zu behüten.«
»Das hast du ja nun getan. Sie ist immer noch nicht ganz von Ashfield