Agatha Christie. Barbara Sichtermann
einen entsprechenden Schutz.«
Da lachte Archie. »Liebe Mama, ich kenne sie ja nun auch. Sie ist durchaus eine Frau!«
»Sicher ist sie das.« Clara wiegte ihren Oberkörper ein wenig unbehaglich hin und her. Und sagte: »Ich habe sogar das Gefühl, dass sie sehr glücklich mit dir ist. Aber Agatha ist nicht so gestrickt wie du und ich. Sie lebt nicht unmittelbar in der Wirklichkeit. Sie nimmt die wirkliche Welt nur durch den Filter ihrer Vorstellung von ihr wahr. So wie Kinder es tun, die die Dinge um sie herum beseelen und sie nach den Maßstäben ihrer Phantasie einschätzen, anstatt sie als das zu nehmen, was sie sind.«
Archie schaute zweifelnd: »Du meinst, Agatha lebt in einer Traumwelt?«
»So würde ich es nicht sagen. Aber ihre Phantasieproduktion ist ungewöhnlich stark und bestimmt ihre Weltwahrnehmung und ihre Lebensentscheidungen auch dann, wenn es darauf ankommt, die Dinge klarzusehen. Deshalb hatte ich Angst um sie und wollte –«
Archie ging lachend dazwischen. »Sorge dich nicht, verehrte Mama! Wenn es wirklich nötig sein sollte, Agatha ein bisschen mehr Bodenhaftung zu verschaffen, so werde ich das übernehmen. Schon morgen. Wir machen einen Ausflug ins Dartmoor.«
Archie fand bald einen Job in der Finanzwelt. Er war sehr stolz und fest entschlossen, sein Bestes zu geben. Am Anfang verdiente er noch nicht das große Geld, aber eine fühlbare Verbesserung seiner und damit auch Agathas Einkommenslage konnte gefeiert werden. Tagsüber blieb Agatha allein in der gemeinsamen Wohnung und versuchte, Routinen des Ehelebens für sich zu entwickeln und Freude daran zu finden. Müsste es sich nicht als wundervoll erweisen, eine verheiratete Frau zu sein? Blumen arrangieren, Kissenbezüge sticken … Alle Geschichten über das Leben und das Schicksal von Frauen liefen auf diesen einen Punkt zu: die Eheschließung. Danach brauchte nicht mehr viel erzählt zu werden, denn was jetzt begann, sollte pure Seligkeit sein. Zwar murmelten alte Damen manchmal etwas von der Unzuverlässigkeit oder gar Treulosigkeit der Ehemänner und von dem Schmerz, der daraus erwuchs, aber dergleichen galt ja wohl nicht für Mr und Mrs Christie. Doch abgesehen von den Wochenenden mit Archie, die sie sehr genoss, verspürte Agatha überhaupt keine Seligkeit. Sie empfand ihr neues Leben sogar als ausgesprochen öde. Archie mochte sie das so nicht sagen, denn wenn er da war, verhielt es sich ja anders: dann war sie immer zufrieden, oft froh und manchmal richtig glücklich. Aber unter der Woche wusste sie einfach nicht, was tun. Haushaltspflichten waren zu erfüllen, das ja, aber da es seinerzeit in der englischen Gentry als unschicklich galt, über kein Personal zu verfügen, egal, wie beschränkt die Mittel waren, mit denen man auskommen musste, hatten auch die Christies eine Haushälterin eingestellt, die alle anfallenden Aufgaben, inclusive Küche, zur Zufriedenheit ihrer Herrschaft erledigte. Die Arbeit im Hause bestand für die bessergestellte Hausfrau ohnehin nur in der Koordination und Beaufsichtigung der Dienstboten – die freundliche Mrs Woods jedoch, die Agatha und Archie den Haushalt führte, musste nicht groß beaufsichtigt werden; man konnte eher sagen, dass es Mrs Woods war, die Agatha ein bisschen beaufsichtigte, wenn sie mitbekam, wie die arme junge Frau erwartungsvoll in den Tag schaute, der ihr nichts bot außer einer vagen Freude auf den Abend. »Vielleicht hat Madam Lust, mit mir ein bisschen Apfelkompott einzukochen?« O ja, dazu hatte Agatha durchaus Lust. Des Abends, wenn Mrs Woods gegangen war und Archie heimkam, passierte aber meistens auch nichts. Er stopfte seine Pfeife, ließ sich von Agatha Bier servieren und erzählte ihr kurz von der City.
»Und was hast du erlebt, darling?«
»Ich? Gar nichts.«
»Warum unternimmst du nicht was mit Freundinnen? Ein bisschen Shopping, he? Und könntest du nicht mal deine Schwägerin besuchen, die du so interessant findest, hm, wie hieß sie noch, die Schwester von Madges Mann, Nan Watts? Übrigens: Ich habe heute während der Mittagspause deinen Roman zu Ende gelesen. Ich finde ihn ausgezeichnet. Du solltest sofort auf Verlagssuche gehen. Ein Kollege von mir hat einen Bruder mit Verbindungen zum Verlagswesen, den spreche ich an …« Das war ja nun etwas Neues, und mit einem Mal war Agathas Leben wieder aufregend, abwechslungsreich und voller Zukunft. Das fehlende Glied in der Kette. Sie küsste Archie auf beide Wangen. Schon morgen wollte er mit dem Kollegen sprechen.
In der Adventszeit zog es Agatha nach Ashfield, und Archie kam mit. Auch Madge war mit Sohn zu Besuch. Die neue Köchin bereitete Fisch und Geflügel zu, und es gab wieder eines jener herrlichen Dinners mit fünf Gängen, zum Nachtisch ein Soufflé mit Torte, wie Agatha es so gerne mochte. Nur dass sie diesmal einfach keinen rechten Appetit hatte. Clara guckte vielsagend, Madge wiegte den Kopf und Agatha erschrak – und erlangte bald Gewissheit. Ja, es war wirklich so: Sie war schwanger. Ich hatte bisher in dem Glauben gelebt, dass Babys sich automatisch einstellen würden. Nach jedem von Archies Urlauben war ich tief enttäuscht gewesen, wenn ich kein Anzeichen eines Babys entdecken konnte. Diesmal hatte ich gar nicht damit gerechnet. Die Schwangerschaft bekam Agatha schlecht, sie litt entsetzlich unter Übelkeit und zwar bis zum letzten Tag; aber nichts konnte ihre Freude trüben: Sie würde bald Mutter sein. Sie würde ihr Baby wiegen. Was für ein Wunder. Es kam also doch noch, das große Glück – wenn auch in Begleitung weher Eingeweide und einer grotesken Entstellung ihrer Figur.
Als Agatha ihrem Mann anvertraute, dass sie nun bald zu dritt sein würden, erlebte sie einen seltsamen Archie. Die beiden hatten kaum je über Elternschaft gesprochen, für Agatha war ein Baby die natürlichste Sache von der Welt und der tiefere Sinn der Ehe. Aber für Archie war das offenbar nicht so. Er starrte sie an, als sie ihn eingeweiht hatte, er kam auf sie zu, umfasste sie und stöhnte:
»Nein, das ist ja furchtbar, mein armer Schatz, nein …«
Agatha war verblüfft: »Was redest du? Es ist doch wunderbar. Ich warte schon so lange darauf …«
»Ich nicht. Ich will kein Kind. Ich möchte mit dir glücklich sein.«
»Aber glaubst du denn, ein Kind würde dabei stören?«
»Allerdings! Es wird die ganze Zeit auf deinem Schoß sitzen, und ich komme nicht mehr zum Zuge.« Nervös nestelte Archie an seinem Tabakbeutel.
Agatha dachte, er mache Spaß. »Ich verspreche dir, dass ich den kleinen Schlingel zwischendurch in die Wiege lege und du durchaus zum Zuge kommst.«
»Schlingel? Du hoffst auf einen Jungen?«
»Natürlich. Es wird auf jeden Fall ein Junge sein.«
»Ach, Agatha«, er küsste sie, weil er glaubte, das jetzt tun zu müssen und gestand ihr, dass er sich tatsächlich vor einem Kind fürchtete, dass es die Zweisamkeit mit ihr sei, die er suche und jetzt in Gefahr sehe und dass sie ihm bitte verzeihen möge.
»Verzeihen? Aber was denn bloß?«
»Na, ich habe dir das doch angetan.«
Agatha machte die Augen zu und lächelte. »Du bist ein Schaf«, sagte sie, »jetzt freu dich bitte.«
»Gut, ein wenig. Aber nur auf ein Mädchen. Auf einen Jungen werde ich immer eifersüchtig sein, denn du würdest deine ganze Aufmerksamkeit auf ihn richten.«
»Aber einer Tochter würde ich dieselbe Aufmerksamkeit widmen.«
»Nein, das wäre nicht das Gleiche.«
»Wir werden ja sehen. Denkst du mit mir über einen Namen nach?«
Archie hatte ausschließlich Mädchennamen auf Lager, er bevorzugte Elaine, Agatha war für Harriet und insgeheim für Frederick.
Das fehlende Glied in der Kette hatte mittlerweile eine Reise durch sechs Verlage, die es alle nicht drucken mochten, hinter sich, und Agatha wollte schon aufgeben, als ihr siebenter Versuch bei dem Verlag The Bodley Head dann doch zu fruchten schien. Man sehe eine gewisse Qualität in ihrem Manuskript, müsse aber vor einer Veröffentlichung noch auf einigen Änderungen bestehen. Um die zu besprechen, werde man der Verfasserin eine Einladung zukommen lassen. Agatha freute sich sehr über diese positive Antwort, aber je mehr Zeit verging, ohne dass die versprochene Einladung erfolgte, desto mehr verfestigte sich Agathas Überzeugung, versagt zu haben und nun doch nicht mit ihrem Buch an die Öffentlichkeit treten zu können. Ich habe wohl zu viel gewollt, dachte sie, schade um Poirot, schade