Agatha Christie. Barbara Sichtermann
fühlte sie sich jetzt ganz und gar unbehaust, abgelehnt, weggeschickt. Das war schmerzhaft.
Es gab aber dann anderes zu tun. Die Familie musste in eine größere Wohnung umziehen, denn sie hätten künftig außer ihrem Kind ja auch noch eine Nanny zu beherbergen. Es ergab sich, dass ganz in der Nähe etwas Passendes frei wurde; die Christies bewarben sich und bekamen den Zuschlag. Noch einmal musste Agatha Türen und Wände streichen, elektrische Leitungen legen und Vorhänge nähen lassen, sie tat das »mit Feuereifer«. Archie bekam von der Army eine Abfindung. »Wir gaben ein Gutteil davon für Möbel aus. Ein Menge Zeugs kam auch aus Ashfield, das ganz vollgestopft war mit Tischen und Stühlen und Truhen, Silber und Wäsche. Wir besuchten auch Auktionen und erstanden dort für ein Butterbrot ein paar altmodische Kommoden und Schränke. Wir hatten kein Klavier, das war bedauerlich, aber diesen Mangel glich ich dadurch aus, dass ich, immer wenn ich nach Torquay kam, wie eine Wahnsinnige auf die Tasten drosch.« Mrs Woods führte Regie bei der Einrichtung der Küche. Sie wusste auch, was es bedeutete, dass Agatha ihr Schwangerschaftserbrechen nicht loswurde. »Ich für mein Teil«, sagte sie, »behaupte, dass Sie ein Mädchen bekommen werden. Übelkeit bedeutet Mädchen. Schwindel und Ohnmacht bedeuten einen Jungen. Übelkeit ist besser.« Archie umsorgte seine Frau mit viel Feingefühl, er ging mit ihr spazieren, brachte sie zu Bett, deckte sie zu und servierte ihr morgens den Tee. Wenn er mit ansehen musste, wie sie Mrs Woods köstliches Mittagsmahl wieder von sich gab, raufte er sich die Haare. Auch dass Agatha die Gestalt einer wandelnden Tonne annahm, irritierte ihn, und er machte gern Scherze über sein geliebtes Nilpferd.
Am 5. August 1919 wurde Agatha von einem Mädchen entbunden; die Geburt fand in Ashfield statt, unter Aufsicht von Clara und einer erfahrenen Hebamme. Das Kind war hübsch und gesund, mit dichtem, dunklem Haar und großen Augen. Die Eltern waren übereingekommen, das Baby so zu nennen, wie sie es passend fänden, wenn sie es nach der Geburt im Arm hielten. Es sollte ihnen sozusagen seinen eigenen Namen zuflüstern. Und als es dann so weit war und die Kleine abwechselnd auf Agathas und Archies Schoß ruhte oder zappelte und sie ihr lange ins Gesicht gesehen hatten, nannten sie sie Rosalind.
Nachdem Agatha sich erholt hatte, machte sie sich auf, in London eine Kinderfrau zu suchen. Es war seinerzeit in der Oberschicht völlig unüblich, ein Kind während der ersten Lebensjahre selbst zu betreuen, die Nanny eine Institution, die mit dem Baby ins Haus kam. Der Krieg hatte vieles verändert, nicht nur die Machtverhältnisse auf dem Kontinent und in Englands Überseebesitzungen, auch das soziale Leben auf der Insel war nicht mehr dasselbe. Die Labour Party, 1900 gegründet, hatte an Einfluss gewonnen, die Arbeiterklasse und die heimgekehrten Soldaten meldeten ihren Anspruch auf Würdigung ihrer Leistungen an, und die Frauen, auch die einfachen Arbeiterinnen, hatten in weiten Teilen Europas – wenn auch noch nicht in England – das Wahlrecht errungen. Eine neue Zeit war angebrochen, und der von Agatha so sehr geschätzte Kosmos der kundigen Dienstboten, mit dem sie aufgewachsen war, zerstreute sich und ging mit der alten quasi-feudalen Klassengesellschaft unter. Agatha erblickte darin einen großen Verlust für das Zusammenleben, den sie immer wieder beklagt hat. Nun musste sie sich an eine kommerziell ausgerichtete Agentur wenden, um eine Kinderfrau zu finden. Wie anders waren die Verhältnisse gewesen, als die alte Nursie noch an ihrer Seite und sie selbst ein kleines Mädchen gewesen war.
Die Nannys im Jahr 1919 waren frech geworden, verlangten zu viel Lohn und bestanden auf geregelter Arbeitszeit. In Agathas Kinderjahren gehörten Nannys zu den privilegierten Dienstboten. Viele nahmen eine Stelle nur an, wenn noch genügend weiteres Personal beschäftigt war und sie sicher sein konnten, dass ein Stubenmädchen das Kinderzimmer sauber hielt und die Köchin für Babynahrung sorgte. Mit einem Wort: sie hielten auf sich. Das war vorbei. Mr Christie konnte zwar den Lohn für eine Haushälterin und ein Kindermädchen aufbringen, aber für ein zusätzliches Stubenmädchen reichte es nicht. Agatha sprach mit mehreren Anwärterinnen, und sie fand die Richtige: Jessie Swannell, die ›Nursie‹ für Rosalind.
»Sie blieb über zwei Jahre bei uns, und ich mochte sie gern, obwohl sie ihre Fehler hatte. Sie gehörte zu jener Sorte Kinderfrauen, die eine natürliche Abneigung gegen die Eltern der von ihr betreuten Kinder empfinden. Für Rosalind war sie die Güte in Person; ich glaube, sie hätte ihr Leben für das Kind gegeben. Mich betrachtete sie als Eindringling, obwohl sie widerstrebend tat, was ich von ihr verlangte, auch wenn sie meine Ansicht nicht teilte. Andererseits wurde sie mit jeder Situation fertig: sie war immer freundlich, gut gelaunt und hilfsbereit. Ja, ich respektierte Jessie Swannell und hoffe, sie hat ein erfülltes Leben gehabt und erreicht, was sie erreichen wollte!«
Mittlerweile hatte Agatha ihr Manuskript und den saumseligen Verlag völlig vergessen, und so war es eine echte Überraschung, als eines Tages ein Brief mit dem Absender The Bodley Head in ihrer Postbox lag. Nach so vielen Monaten! Man hatte dort ihr Werk tatsächlich nur zur Seite gelegt und es dann wieder hervorgeholt, und jetzt wurde sie zu einem Gespräch gebeten. Hercule Poirot und Major Hastings, sie würden vielleicht doch noch das Licht der lesenden Welt erblicken. » Hoffnungsvoll machte ich mich auf den Weg. Ich wurde in das Büro des Verlagsleiters John Lane geführt, und er erhob sich, um mich zu begrüßen. Er hatte eine gütige, liebenswürdige Art, aber seine pfiffigen blauen Augen hätten mich vielleicht warnen sollen, dass ich es mit einem Menschen zu tun hatte, der seinen Vorteil rücksichtslos zu wahren wusste.«
Mr Lane klagte über die Schwierigkeiten des Buchmarktes und das Risiko, das er mit jedem neuen Titel eingehe. Und er wünschte sich für den Schluss von Das fehlende Glied … noch einige Änderungen. Agatha verstand, dass er entschlossen war, ihr Buch zu verlegen, und sie jubelte innerlich, als er das Vertragsformular hervorzog. Ich hätte unbesehen alles unterschrieben. Dieser Vertrag sah vor, dass ich kein Autorenhonorar erhalten würde, solange nicht zweitausend Exemplare verkauft waren. Die Hälfte aller Erlöse aus der Veröffentlichung als Fortsetzungsroman sowie aus den Bühnenrechten würde an den Verlag gehen. Das alles bedeutete mir nicht viel – nur eines war wichtig: das Buch würde erscheinen! Ich bemerkte nicht einmal, dass der Vertrag eine Klausel enthielt, die mich verpflichtete, ihm meine nächsten fünf Romane zu einem nur mäßig günstigeren Honorarsatz anzubieten. Für mich bedeutete das alles einen unglaublichen Erfolg. Ich unterschrieb mit Begeisterung. Auf dem Heimweg dachte sie: ›Ich muss sofort an Mama und Madge schreiben. Und auch an Eden Philpotts.‹
Archie war gar nicht verwundert, als Agatha zu Hause Bericht erstattete.
»Du bist gut«, sagte er, »die Geschichte ist sophisticated, da geht man gerne mit.« Und er schmunzelte. »Ich bin stolz auf dich.«
»Mr Lane hat mich womöglich über den Tisch gezogen, Archie. Ich bekomme erst Geld, wenn der Handel zweitausend Exemplare abgesetzt hat.«
»Das ist nicht besonders großzügig. Aber das wirst du schaffen. Das Buch wird laufen.«
»Er behauptete, dass es immer sehr schwierig sei, eine junge Schriftstellerin durchzusetzen, und als er das sagte, habe ich ihn unterbrochen und ihm klargemacht …« Sie stockte.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt: Schriftstellerin? Aber ich bin doch keine Berufsschriftstellerin! Ich schreibe zu meinem persönlichen Vergnügen. Ich bin Ehefrau und Mutter und will nichts anderes sein. Er hatte mich da bei meiner Ehre gepackt.«
»Ehre? Wie meinst du das?«
»Er hat ja so getan, als sei ich eine Frau, die für Geld schreibt, die es nötig hat, verstehst du?«
»Ja, ich verstehe völlig, aber da hast du womöglich einen Fehler gemacht. Jetzt denkt Mr Lane, er könne mit dir Schlitten fahren, weil du kein Profi bist.«
»Meinst du, ich hätte so tun sollen, als ob?«
»Ich denke schon. Der Vertrag jedenfalls ist nicht sehr günstig. Aber warten wir erstmal ab, wie sich das Buch verkauft. Wann kommt es denn raus?«
»Oh, ich hab das Manuskript wieder mitgenommen. Ich muss am Schluss noch was ändern. Und muss unbedingt herausfinden, wie ein Strafprozess vor Gericht abläuft. Mr Lane meinte, da wären bei mir ein paar grobe Schnitzer dabei.«
Die Bearbeitung ging Agatha glatt von der Hand, sie verwandelte die Gerichtsszene in eine Anhörungsszene, und vermied