Agatha Christie. Barbara Sichtermann
nichts. Die Frauen wussten genau, was im Feld geschah, Agatha sogar sehr genau, denn sie hatte an den Betten der Verwundeten gesessen und ihre Geschichten gehört.
»Weißt du, was ich gern täte?«, fragte sie Archie im Garten eines kleinen Hotels in New Forest, »ich würde mir gern Männerkleider anziehen, eine Einberufung fälschen und in den Krieg ziehen, zufällig genau in deinen Truppenteil.«
Archie küsste ihre Wange. »Sei froh, dass du das nicht musst«, sagte er. Und dann klagte er doch ein wenig – darüber, dass er nicht mehr fliegen konnte. Es hatte ihm so viel bedeutet. Er vermisste die Wolken. »Du musst mich entschädigen. Du und dein goldenes Haar.«
»Warum treffen wir uns nicht nächstes Mal in Ashfield?«, fragte Agatha. »Ich möchte mit dir auf der Terrasse sitzen. Und wir könnten den Pier entlangwandern …«
»Lass uns lieber nach Bristol gehen«, antwortete Archie, »ich scheue Ashfield wegen deiner Mutter. Ich habe das Gefühl, dass sie mich ablehnt.«
»Das tut sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil, du gefällst ihr. Aber du hast eben diesen einen großen Nachteil: du nimmst mich ihr weg. Das ist es, womit sie nur schwer fertigwird.«
»So ein Unsinn. Du wirst 26. Alle Mütter müssen ihre Töchter gehen lassen. Das ist der Lauf der Welt.«
»Mit Clara hat es eben eine besondere Bewandtnis.«
»Was für eine Bewandtnis?«
»Sie kann Trennungen nicht vertragen. Und ich bin die Letzte, die sie noch hat. Verstehst du?«
»Nein, verstehe ich nicht.«
»Wirst du aber, wenn du weißt, wie meine Mutter aufgewachsen ist. Sie hat ihren Vater verloren, da war sie neun Jahre alt. Sie hatte noch drei Brüder. Ihre arme Mutter Mary Ann, meine Omi, stand nun allein in der Welt, sie bekam nur eine winzige Pension. Da hat Claras Tante Margaret, Omis Schwester, der Witwe ein Angebot gemacht. Margaret war jung verheiratet und gut gestellt, und sie sagte zu ihrer Schwester Mary Ann: Gib uns eins deiner Kinder ab, wir ziehen es für dich auf, dann ist deine Bürde ein bisschen weniger schwer. Und Omi gab Tochter Clara zu ihrer Schwester. Meine Mutter musste also ihre Familie verlassen und zur Tante ziehen, die außerordentlich lieb zu ihr war, aber es war eben nicht die Mutter. Es war eine neue Familie, in die sie sich erst einleben musste. Und das ist nicht gut gelungen. Verstehst du jetzt?«
»Huh«, machte Archie, »die Ärmste ist also weggegeben worden?«
»So ist es. Sie hatte furchtbares Heimweh, das nicht vergehen wollte. Bis heute fühlt sie sich von Trennungsängsten verfolgt. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass der Wechsel für Clara auch was Gutes hatte. Sie lernte dort ihren Cousin Frederick kennen. Der war nicht ihr richtiger Cousin, keine Blutsverwandtschaft, er war der Sohn aus erster Ehe von Tante Margarets Ehemann, einem Amerikaner, der Miller hieß. Ihr Cousin Frederick Miller gehörte also mit zur Familie, er war neun Jahre älter als meine Mutter. Er hat sie, als sie Kinder waren, immerzu geneckt und geärgert und geknufft, und als Clara erwachsen war, ging das so weiter, nur mit anderem Unterton. Und stell dir vor: Irgendwann machte er ihr den Antrag. Mein Vater Frederick Miller, ja. Sie ist also doch noch gut ausgegangen, Claras Geschichte. Aber dass ihr Trennungen zu schaffen machen, das müsstest du jetzt verstehen.«
Archie brummte vor sich hin. Dann nickte er und sagte: »Einverstanden. Bei meinem nächsten Urlaub komme ich nach Torquay. Und nach Ashfield. Ich will deiner Mutter klarmachen, dass sie sich von ihrem Schwiegersohn Archie Christie niemals trennen muss.«
Oft saß Agatha im Schulzimmer, starrte aus dem Fenster und dachte über ihren Krimi nach. Er würde ihr gelingen, das fühlte sie, und sie würde diesmal Mr Philpotts mit dem Manuskript verschonen, es dafür sogleich an einen renommierten Verlag schicken. »Ich konnte mir natürlich einen sehr ungewöhnlichen Mord und ein sehr ungewöhnliches Motiv ausdenken, aber das entsprach nicht meiner schriftstellerischen Absicht. Der ganze Witz eines guten Kriminalromans besteht darin, dass einer offensichtlich der Mörder sein muss, es aber ebenso offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht sein kann. Obwohl er es natürlich ist …« Agatha hatte von Madge eine alte Schreibmaschine geerbt, an der saß sie in ihrer freien Zeit, übte für den Kursus und tippte die handschriftlichen Skizzen für ihren Krimi ab. So eine Seite sah, wenn man sie aus der Maschine herausdrehte, auf eine herrliche Weise gedruckt aus. Das war ein Vorgeschmack auf das Buch, das sie irgendwann in Händen halten würde. Würde sie? Anfang und Ende hatte sie schon genau im Kopf, einige Passagen schrieb sie auf gut Glück nieder – aber sie hatte noch keinen Detektiv. Madge glaubte nicht an das Projekt, sie fand, Agatha sei für die Genauigkeit, die ein Krimi verlange, zu wunderlich. Aber Clara nickte ermutigend. Eines Tages kam sie zu Agatha ins Schulzimmer, setzte sich auf den Sessel für die Lehrerin und fragte geradeheraus:
»Hast du mit Archibald über deine schriftstellerischen Pläne gesprochen?«
»Ich habe mal so etwas angedeutet«, erwiderte Agatha, »er fand das ganz in Ordnung. Hab keine solchen Bedenken, Mama, Archie ist ein ziemlich moderner Mann, und er wünscht sich eine moderne Frau, eine, die selbständig denkt und handelt und – schreibt.«
»So was sagen die Männer vor der Ehe, und hinterher wollen sie, dass man nur für sie allein da ist.«
»Aber wir sind doch nicht mehr ›vor der Ehe‹.«
»Praktisch schon. Ihr führt doch kein Eheleben.«
Agatha seufzte. »Dieser Krieg kann nicht ewig dauern.«
Clara sagte: »In Russland hat es eine Revolution gegeben. Das bedeutet weitere Flüchtlinge für uns, diesmal aus dem Zarenreich.«
Agatha überlegte: »Mein Krimi spielt im Hier und Heute. Was hieltest du davon, wenn mein Detektiv ein geflüchteter Ausländer wäre? Einer, der in seiner Heimat ein Kriminalbeamter war?«
»Soll er denn sympathisch sein?«
»Nicht unbedingt. Ich stelle ihn mir ein wenig sonderbar vor, mit einer speziellen Begabung. Er sieht hinter die Fassaden. Aber sympathisch? Hm. Manche mögen ihn, andere nicht. Auf jeden Fall ist er ein Außenseiter. Seiner Umgebung soll er ein wenig unheimlich sein, weil er Dinge wahrnimmt, die anderen entgehen.«
»Das ist üblich bei einem Detektiv. Aber um eins bitte ich dich: kein Russe!«
»Nein-nein, er muss ja Englisch sprechen und auch sonst Bildung haben.«
»Wie wäre es denn – du hast doch sicher von dieser Kolonie in der Gemeinde Tor gehört, dort hat man Leute untergebracht, die kurz nach Kriegsbeginn aus Belgien geflohen sind …«
»Ein Belgier! Ja, warum nicht? Man spricht dort Französisch, oder? Jedenfalls in größeren Landesteilen. Alle werden meinen Detektiv für einen Franzosen halten, weil er diesen Akzent hat. Und er kann seine Mitmenschen dann ein bisschen von oben herab berichtigen: ›Ich bin Belgier.‹ Und ich darf immer mal französische Wendungen einfließen lassen, etwa: ›Ah, mon ami‹, oder ›Voilà!‹ oder ›Eh bien!‹ – So was frischt einen Dialog auf! Ja, danke, Mama, der Vorschlag ist wirklich gut.«
Clara lächelte. »Und der Name?«
»Lass mich überlegen. Wie heißen Belgier denn so?«
»Lilian Pirie hat einen Belgier aus dieser Kolonie kennengelernt, der heißt Vandewall.«
»Nee. Es gibt doch wohl französische Namen in Belgien, oder? Ein bisschen Harmonik sollte schon mitschwingen; diese germanischen Namen klingen durch die Bank entsetzlich barsch und bestenfalls schwermütig.«
»Ja, warte, dieser Vandewall hat einen Nachbarn namens – äh – Poiret. Wie ist es denn damit?«
»Passt schon eher. Ich werde ihm übrigens einen Freund an die Seite stellen, mit dem er sich über den Fortgang seiner Ermittlungen austauscht. Damit ich diesen Fortgang in einen Dialog packen kann, verstehst du? Der Freund hat schon einen Namen: Major Arthur Hastings.«
»Ein bisschen wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson, he?«
Agatha errötete. »Nun ja, aber