Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater. Koku G. Nonoa

Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen  Theater - Koku G. Nonoa


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abschließbar […], in vollem Wortsinn ein Lebenswerk.“2 Von Anfang an verstand sich seine aktionistische Kunsttätigkeit als institutionskritisches Ausdrucksmittel sowohl gegen herkömmliche Darstellungs- und Abbildungsästhetik als auch gegen Verdrängungen der damaligen konservativen Kulturpolitik in Österreich. Dies alles ging mit lebensbezogenen Konsequenzen Hand in Hand: Von 1960 bis 1968 zog seine Aktions- und Ausstellungstätigkeit in Wien mehrere strafrechtliche sowie polizeiliche Verfolgungen und Gefängnisstrafen nach sich.3 In der Tat lag es nahe, Nitsch und sein Theater mit der Vermutung einer „Mordmotivation“ zu assoziieren. In Anspielung auf den Wiener Opernmord an einem Ballettmädchen, der damals mit der Nitsch-Aktion in Verbindung gebracht wurde, behauptete Nitsch, dass wer Aktionen mit Fleisch, Gedärmen und Blut durchführe, dürfe sich nicht wundern, wenn die Polizei ihm des Mordes für fähig halte.4 Dass er sich bei der Verwirklichung seines Theaters große Schwierigkeiten einhandeln würde, war ihm bereits am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn bewusst. Seine erste Aktion, die am 19.12.1962 stattgefundene „Kreuzigung und Beschüttung eines menschlichen Körpers“,5 hatte für ihn Konsequenzen: Er fing damit an, seine Aktionen systematisch zu nummerieren, als ob er sehen möchte, wie viele Aktionen ihm trotz der bevorstehenden Hürden gelingen würden.

      Mit seinem aktiven Mitwirken am Wiener Aktionismus steckte Nitsch zudem in einem realen Spannungsbogen: Er und die anderen Protagonisten des Wiener Aktionismus, die sich mit Tabus, erotischen/sexuellen Extremzuständen, Verletzungen und Tod künstlerisch auseinandersetzten,6 setzten sich einer gesetzlichen Strafe aus. Dies bezeugen die strafrechtlichen Verfolgungen und Exile nach der Aktion „Kunst und Revolution“ (1968) sowie das Ende des Wiener Aktionismus. Hingegen nahm die Zahl der Aktionen sowie Malaktionen von Nitsch zu, mit denen er rasch international berühmt wurde. Im September 1966 nahm er an dem „Destruction in Art Symposium“ (DIAS)7 teil. Auch dort betrat kurz vor Ende von Nitschs 21. Aktion die Polizei mit zehn Mann den Raum, brach die Veranstaltung ab und forderte die Herausgabe des während der Aktion projizierten Filmes, der eine Penisbespülung zeigte. Nitsch wurde einer Leibesvisitation unterzogen.8 Doch hatte ihm seine Teilnahme an DIAS Türen für weitere internationale Auftritte geöffnet: Seine 25. und 26. Aktion hielt er 1968 in der Film-Makers‘ Cinematheque in New York City, wo er selber auftrat. Seitdem erfolgten weitere internationale Aktionen in New York, München und Köln. Sein internationaler Erfolg ermöglichte es ihm, 1971 das Schloss Prinzendorf anzukaufen, das zum Zentrum der weiteren Entwicklung seines Theaters wurde. Bei genauerer Betrachtung stehen die Jahre von 1968 bis 1971 für die Periode, in der der Wiener Aktionismus sowohl seinen Höhepunkt als auch sein Ende erlebte. Zugleich entspricht auch diese Periode dem entscheidenden Startpunkt des Erfolgs und der Weltberühmtheit von Nitsch und seinem Orgien-Mysterien-Theater.9 Ab diesem Zeitpunkt hat sich Nitsch nachhaltig mit zahlreichen Auszeichnungen im internationalen Kunstbetrieb etabliert.10 Trotz dieser Auszeichnungen und seines internationalen Ranges in der Kunstszene scheiden sich bis heute noch weiterhin die Meinungen über sein Theaterkonzept. So stößt Nitsch nach wie vor auf Kritik und Erregung der Öffentlichkeit innerhalb wie außerhalb von Österreich – vor allem wegen seines Umgangs mit christlich-religiösen Symbolen und wegen der Verwendung von Tierkadavern. Es gilt in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Nitsch in seinem Theater nicht nur Gebrauch von allen grundlegenden Praxen der bereits geschilderten Formen der Installations-, Happenings-, Aktions- und Performancekunst sowie von Fluxus macht. Er radikalisiert sie zugleich. Seines Erachtens sind z.B. die Möglichkeiten der unter dem Begriff Happening zusammengefassten Aktionen in den 1960er-Jahren zu wenig genützt worden. Ihm zufolge sei die Konfrontation mit unserer eigenen existentiellen Wirklichkeit zu oberflächlich geschehen und alles habe eine spielerische Leichtigkeit gehabt. Mit Rückgriff auf diese Kunstformen institutionskritischen Ausdrucks geht es ihm darum, durch intensives Erleben andere ästhetische Wirklichkeitsbereiche zu erfinden, die auf die Weite unserer mystischen Existenzmöglichkeit hinweisen sollten.11

      Diese Analyse beschränkt sich überwiegend auf die institutions- und zivilisationskritischen Aspekte von Nitschs Theaterkonzept, das alle bisher institutionell sowie konventionell tradierten Rahmenbedingungen der Kunst erschüttert hat: „das direkte gestalten mit der wirklichkeit wurde nitsch zum obersten gebot“,12 um eine andere Dimension der gesellschaftlichen Rolle der (Theater-)Kunst zu schaffen – durch die prozessuale Hervorbringung und reale Erfahrung emotionsgeladenen und affektiven Ausdrucks, der sich einer sinnlich überladenen Sprache sowie eines Geschmacks- und Geruchsrituals13 bedient. Nitschs Theater ist umfangreich und geht entsprechend mit der Aufforderung zu anderen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen Hand in Hand.

      Der nun folgende Teil widmet sich eingehender dem Verhältnis zwischen Nitschs Theaterkonzept und den spätmittelalterischen geistlichen Spielen sowie dem institutions- sowie zivilisationskritischen Anteil des Orgien-Mysterien-Theaters. Da sein Theateransatz als Gesamtkunstwerk sehr umfangreich ist, wird aus postdramatischer Perspektive die Beziehung zur Institution Theater sowie zur christlichen Religion sowie den christlich-religiösen Bräuchen und der Zivilisation, zur Lebenswelt und zu tragischer Erfahrung erörtert. Es geht erstens darum, das Orgien-Mysterien-Theater mit der aktuellen soziokulturellen Situation in Verbindung zu bringen. Dadurch wird gezeigt, dass der Anteil der Institutions- und Zivilisationskritik eine zentrale Rolle spielt. Zweitens wird in diesem Teil der Arbeit auf institutionskritische Teilentwicklungen des Orgien-Mysterien-Theaters eingegangen: von der klassischen Malerei bis zum Aktionstheater, vom klassischen/dramatischen bis zum aktionistischen Theatermodell. Drittens wird Nitschs Kritik am Modell des klassischen Theaters diskutiert. Dabei wird seine Synästhesie als Kritik- sowie Transgressionsmittel und als Weg zu Wirklichkeitsbereichen seines Theaters verdeutlicht. Viertens befasst sich diese Analyse mit Nitschs szenisch-performativer institutionskritischer Reaktion auf die christliche Religion bzw. die Passion Christi, die er zur Passion des Gegenwartsmenschen macht. In diesem Zusammenhang wird sein Theater als ästhetische und selbstreferenzielle Zeremonie kulturellen Zelebrierens aus postdramatischer Sicht veranschaulicht. Dabei analysiert diese Studie, wie Nitsch mit dem performativ-zeremoniellen Reflektieren über den menschlichen Körper umgeht. Fünftens geht die Untersuchung auf das Verhältnis des Orgien-Mysterien-Theaters zu den spätmittelalterlichen Passionsspielen ein. Sechstens untersucht diese Dissertation den Anteil der Zivilisationskritik und der ästhetisch transformativen Erfahrung in Nitschs Theater, das fremd gewordene Erfahrungen ritueller theatraler Kulturpraktiken der griechischen Antike wiederherstellt. Diesbezüglich wird in dieser Arbeit der Begriff Urtheatralisierung eingeführt, um eine Vorgehensweise zu bezeichnen, die im Verhältnis mit dem Sinn der performativen Opferhandlung in voraristotelischer Theaterpraxis steht. Im Anschluss daran wird auf die literarische Transformation voraristotelischer Theaterpraxen eingegangen. Siebtens behandelt dieser Teil die Verstrickung des menschlichen Körpers mit Tierkadavern und der Dingwelt als Mittel zur transformativen Körpererfahrung im Orgien-Mysterien-Theater.

      2.1.2. Schloss Prinzendorf: Zentrum und Schauplatz des Orgien-Mysterien-Theaters

      Während Nitsch seit Anfang der 1960er-Jahre an seinem Theaterkonzept performativ arbeitet, findet erst ab dem Sommer 1998 die erste vollständige Aufführung seines Sechstagespiels in seinem Schloss in Prinzendorf statt. Seit 1971 bildet das Schloss den zentralen Schauplatz sowie das Zentrum der vollständigen Entwicklung und performativen Durchführung seines Theaters. Parallel zur praktischen Ausführung hat Nitsch an einer umfassenden Theorie seines Theaterkonzepts beständig gearbeitet, die stets die performative Entwicklung seiner Theatervision begleitet und eine historische, kultur- und kunstgeschichtliche Einbettung hervorgehoben hat. Die Gestaltungsform mit betonter synästhetischer Dramaturgie soll nach Nitschs Intentionen die direkte Teilnahme an den Geschehnissen sowie das Ausleben des Exzesses, der Aggression, der Abreaktion und der Katharsis ermöglichen – im Zerreißen, Schmieren, Schütten und Besudeln, Zerstampfen, Zerdrücken und Zerwühlen, um wiederum die Erfahrung und Überwindung des Tragischen, des Todes erlebbar und erfahrbar zu machen. Dabei beansprucht die gesamte Realisierung seines Theaters die meisten grundlegenden Kunstformen – Malerei, Musik, Theater, Architektur etc. –, die sich Nitsch unkonventionell aneignet, die er personalisiert und grundlegend transformiert, sodass jede interessierte universitäre Wissenschaft oder Disziplin einen bestimmten Aspekt seines Theaters zum Forschungsgegenstand machen kann. In dieser Arbeit wird der Akzent stärker auf den Theateraspekt gelegt. Im Folgenden werden der Schauplatz, die Zeit/Dauer, die Vorgänge/Aktionen,


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