Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater. Koku G. Nonoa
verdrängten Fremden im Eigenen: z.B. von den blutigen Opferritualen. Aus dieser komplexen Konstellation des Fremden, das im Eigenen verwurzelt ist, soll das Fremde nicht mehr bzw. nicht nur in den fernen Kulturen, sondern (auch) im Inneren des synkretistischen sowie unterdrückten Eigenen gesucht werden. Anders formuliert: Zeichnet sich die gegenwärtige Kulturauffassung durch vielfältige kulturelle Interferenzelemente aus und distanziert sie sich folglich von einem Containermodell der Kultur, so ist die Suche nach dem, „was als kulturell fremd gilt, nicht mehr unbedingt an einen fremden Ort gebunden“9, sondern bei sich im Eigenen auffindbar. Der transkulturelle bzw. synkretistische Ansatz in dieser Arbeit richtet das Augenmerk auf den kulturellen Synkretismus, den Nitsch und Schlingensief in ihren jeweiligen Theateraktionen über den ästhetischen Funktionsmodus des kulturellen Zelebrierens zum Vorschein bringen. An diesem Punkt geht die Arbeit über das postdramatische Theater hinaus und schlägt die Brücke zu antiken griechischen, mittelalterlichen und außereuropäischen bzw. afrikanischen Theaterformen. Konkret geht diese Arbeit von der Annahme aus, dass Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ als Inbegriff einer Radikalisierung gegenkultureller sowie institutionskritischer Erscheinungsformen von Kunst – wie z.B. Fluxus, Happening, Installations-, Interventions- sowie Aktionskunst – fungieren.
Das Orgien-Mysterien-Theater wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Institutions-, Religions- und Zivilisationskritik im Verhältnis zu gegenwärtigen soziokulturellen Begebenheiten untersucht. Dabei wird Nitschs synästhetische Dramaturgie als Kritik- und Transgressionsmittel dargestellt, um dadurch Menschen in synästhetische Wirklichkeitsbereiche seines Orgien-Mysterien-Theaters einzuführen. Es handelt sich dabei vor allem um solche synästhetische Wirklichkeitsbereiche, die in Form einer ästhetischen Ritualisierung bzw. einer selbstreferenziellen Zeremonie aus postdramatischer Sicht auf ein performatives Reflektieren über den menschlichen Körper im Theater, auf eine funktionelle ästhetisch-transformative Erfahrung, auf die Wiederherstellung fremd gewordener Erfahrungen und somit auf eine eigenartige kulturelle Praktik abzielen – in Verknüpfung mit der Opferbehandlung voraristotelischer Theaterpraxis. Nitschs theatrale Wiederherstellung voraristotelischer Theaterpraxen in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen wird unter dem Begriff Urtheatralisierung subsumiert. Auch die Parallelen des Orgien-Mysterien-Theaters zu spätmittelalterlichen Oster- und Passionsspielen, die bis jetzt in der Nitschs Forschung unterbelichtet sind, werden in dieser Arbeit behandelt.
Die Auseinandersetzung mit Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ ist in der vorliegenden Arbeit eine erste umfangreiche Untersuchung dieser Aktion: sie wird zunächst in Relation zur postdramatischen Theaterästhetik und Urtheatralisierung als rituelles und politisches Ereignis gebracht, wobei der Akzent auf die sozialkritische und politische Dimension sowie auf die Einordnung in die gesellschaftskritische Theatertradition von der Aufklärung bis in die 1960er-Jahre gelegt wird. Die Produktions- und die Wirkungsästhetik der Aktion 18, „tötet Politik!“ wird auch hinsichtlich ihrer Kontextualisierung von Aktion, Raum und Zeit sowie der politischen Akteure_innen jenseits der Freizeitgattungen veranschaulicht. Schlingensiefs Fragmentierung und Entgrenzung des theatralen Schauplatzes, sein künstlerisches Schaffen von Ausnahmesituationen sowie -orten und seine störorientierten Strategien als Inszenierungsstil werden analysiert und am Beispiel seines Aufrufs „tötet Möllemann“ diskutiert. Ausgehend vom rituellen Vorgang in Aktion 18, „tötet Politik!“ wird zudem auf die postdramatische Theaterkomposition (vorkolonialer Zeit) in Afrika analytisch eingegangen und in Bezug auf sein Operndorf sowie auf die bereits erwähnten afrikanischen Theaterformen in kulturspezifischer und transkultureller Lesart behandelt.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen wird anschließend im dritten Kapitel Theater als Kunst bzw. Ästhetik kultureller Selbstreflexion und Selbstveränderung behandelt. In diesem Zusammenhang werden die postdramatische Ästhetik bis hin zum postdramatischen Theatersynkretismus sowie die Neuperspektivierung der Werkkategorie postdramatischer Ausprägung beleuchtet.
Die zentrale These der vorliegenden Arbeit lautet: Theater ist eine kulturelle Erscheinungsform des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes. Es ist demnach als künstlerisches und ästhetisches Medium kultureller Kompromisssuche, Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung sowie Selbstveränderung aufzufassen.
1.4. Theater: ein Medium des kompromissbereiten Praxis- und Erkenntnisschauplatzes
Aufgrund der in dieser Analyse zu behandelnden Theaterformen bzw. -entwürfe, die sich sowohl auf entfernte als auch aktuelle zeiträumliche Kulturen beziehen, lässt sich Theater als Kunst und Ästhetik kultureller Selbstdarstellung, Selbstwahrnehmung und Selbstveränderung auffassen. Wie im zweiten Kapitel gezeigt wird, entspringen alle Theaterformen ihren jeweiligen zeiträumlichen, kulturspezifischen, sozialen und politischen Kontexten.1 Aus der Perspektive von cultural performance und kulturellem Zelebrieren ist Theater im Allgemeinen ein szenisch-dynamischer Schauplatz sowie ein ästhetisches und künstlerisches Medium kompromissbereiter, performativer Aushandelns- und Erkenntnispraxis. In einer Theatersituation geht es auch darum, die herrschenden Gesellschaftsordnungen auf die Probe zu stellen, um dadurch neue Keime individueller, kollektiver sowie soziokultureller Transformationen treiben zu lassen. Viele postdramatische Theaterformen – z.B. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ – machen aber auf eine übertriebene Art und Weise Gebrauch von der Wirkungsästhetik der Theatersituation. Derartige postdramatische Verfahren lassen sich anhand des Begriffs Anagnorisis im Verhältnis zur Tragödie besser beschreiben:
Die Tragödie wirkt wie ein Pharmakon, ein Gift, das heftiges Affekt-Fieber auslöst, aber, gemäß dem Doppelsinn des griechischen Begriffs, dadurch zugleich auch Medizin, Heilmittel ist. In den Dienst der Beschreibung dieser Affektwirkung tritt nun auch das Konzept der Anagnorisis. Scheint es sich zunächst nur auf die Dramaturgie zu beziehen und einen Erkenntnisprozess anzuziehen, so kann doch jeder aus der eigenen Theatererinnerung bestätigen, dass Aristoteles präzise erfaßt hat, dass in der Tat die Momente solchen (Wieder-)Erkennens zu den affektiv stärksten Augenblicken einer Theateraufführung gehören – in ungleich höherem Maße als bei der Lektüre. Denn hier spielt das Miterleben, die Raumzeit des Theaters entscheidend mit, meine „Zeugenschaft“, die mich im Theater in der identifizierenden Übernahme der Erkenntnis mit dem Helden verbindet. „Ja, Du bist es, Orest! Gott, ich bin es, Ödipus, der den König tötet!“. Anagnorisis bedeutet: ein plötzlicher Umschlag, eine Umwendung, die wie ein radikaler Beleuchtungswechsel funktioniert […]. Anagnorisis meint nämlich nicht ein für allemal dauerhaft erworbenes Wissen. Vielmehr weist das Wort auf einen Moment hin, auf eine Art affektgeladener Erleuchtung, die blitzartig geschieht […].2
Die Anagnorisis als der in der Tragödie enthaltene Ausdruck von Wiedererkennen und Wissen ist bereits seit der Antike der Konnex zwischen „Theater und Belehrung, Theater und Wissen, Theater und Erkenntnis […].“3 Es geht hierzu um eine prozessuale Fokussierung auf die Performativität und die Potentialität4 der Theaterpraxis: Dabei werden einzelne theatrale Verfahren, wie Heeg betont, im Wechselspiel von „aisthetischer Erfahrung und Konstruktion“ derart exponiert, „dass das Exponierte zwischen den Sphären von Kunst und Wissenschaft oszilliert“,5 womit das Wesen von Theater als künstlerisches und ästhetisches Medium der „Unterbrechung“ und der „Überschreitung“6 im Hinblick auf das Experimentieren anderer Erfahrungswege zur Erkenntnisgewinnung in den Vordergrund rückt. So gesehen fungiert und funktioniert Theater im Allgemeinen als ein ästhetisches Medium nach dem Vorbild eines kulturellen Kompromisses, der es ermöglicht, Spielregeln auszuhandeln, anhand derer Wahrnehmungsverhältnisse reflektiert, historische sowie aktuelle Fragen und soziokulturelle, ökonomische sowie politische Dimensionen der Theaterpraxis hinterfragt und vorangetrieben, Formen sowie Erfahrungen kultureller Begegnungen und Konflikte jeweils experimentiert und (auf-)gelöst werden können. Theater demnach nicht nur als eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch als einen kompromissbereiten Praxis- und Reflexionsschauplatz von Kultur aufzufassen, bezieht sich auf ein Theaterverständnis, welches sich im Mittelpunkt eines dynamischen Prozesses befindet: Theater – im Sinne einer künstlerischen Praxisform von Kultur – als Konsens oder als ein Aushandeln zu verstehen, verweist auf ein Verständnis, das sich mit Kultur als einem „offenen und instabilen Prozess des Aushandelns